Wenn schwerkranke Kinder sterben, stehen Eltern, Ärzte und Pfleger vor einer großen Herausforderung. Kinderkliniken bieten in dieser Situation nicht immer eine ausreichende Hilfe. Ihnen fehlen häufig die nötigen Strukturen, um sterbende Kinder optimal zu betreuen. Doch was ist die richtige Behandlung für sterbende Kinder und was wünschen sich die Kinder selbst?
In Deutschland leben 16.000 Kinder mit lebenslimitierenden Erkrankungen, 1.600 sterben jedes Jahr daran. Fast alle Kinder möchten ihr Lebensende zu Hause verbringen, aber nur für die Hälfte geht dieser Wunsch in Erfüllung. Das Problem liegt darin, dass die wenigsten Kliniken den Eltern eine ambulante häusliche Palliativversorgung zusichern können mit der Option, das Kind für akute Notfalle auch kurzfristig stationär zu behandeln. Einmal in der "Mühle der Krankenhausmahlsteine", so die Befürchtung der Eltern, gebe es bis zum Tod kein Entrinnen mehr. Die Hälfte aller Kinder, die zum Sterben auf einer onkologischen Station liegen, landen aufgrund der traditionellen Klinikstrukturen kurz vor dem Tod immer noch auf der Intensivstation. Zwar sind die Kliniken auch für das Sterben ausgerüstet, aber manchmal scheitert schon der Wunsch des Pflegeteams nach einem zusätzlichen Sterbezimmer an Geld- und Raummangel.
In England haben die Kinder es besser: In dem Land, in dem die Palliativmedizin ihren Ursprung hat, versterben 75% der Kinder zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung. Deutschland versucht aufzuholen, doch bessere Versorgung bedeutet auch mehr Kosten. Prof. Dietrich Reinhardt, Direktor der Kinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München, ist zuversichtlich: "Natürlich wird das viel Geld kosten. Aber wir müssen erst einmal anfangen, die Möglichkeiten auf den verschiedensten Ebenen – Politik, Kliniken, Pflege, Niedergelassene – zu bündeln. Wenn wir das geschafft haben, sind wir ein ganzes Stück weiter."
Dass auch Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen kann, zeigt das Beispiel Datteln. In der 35.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen entsteht in der Vestischen Kinderklinik die weltweit erste Kinderpalliativstation.
Warum kann man nicht einfach ein paar Kinderbetten in die Palliativstation für Erwachsene stellen? "Kinder gehören nicht in ein Erwachsenen-Hospiz und auch nicht auf eine Erwachsenen- Palliativstation, das sollte in der Hand der Kinderärzte bleiben", betonte Dr. Boris Zernikow, leitender Arzt des Insituts für Schmerztherapie und pädiatrische Palliativmedizin der Dattelner Kinderklinik. Die Herausforderung in der palliativen Betreuung von Kindern sind die je nach Alter sehr unterschiedlichen Bedürfnisse und die Vielfalt der Erkrankungen. Ein Baby mit einem Herzfehler, das in einem halben Jahr sterben wird, braucht eine andere palliative Betreuung als ein 16-jähriger Krebspatient. Der Pädiater muss auf alle diese Fälle vorbereitet sein und beispielsweise auch darin ausgebildet sein, wie er den Tod des Kindes den Eltern mitteilt. Hinzu kommt die Erfahrung mit einer Schmerztherapie, welche die Autonomie des Kindes berücksichtigt. "Eine große Anzahl von Kindern will die Schmerztherapie, die man sich so ausdenkt, gar nicht. Weil sie lieber Schmerzen haben und ganz wach sind", so Boris Zernikow.
Palliativbetreuung von Kindern ist Teamarbeit. Ausführliche Gespräche, spirituelle Begleitung und die Möglichkeit, mit Gefühlen kindgerecht umzugehen, erfordern die Einbindung von Psychologen und Seelsorgern. Kinder befassen sich häufig weitaus klarsichtiger mit ihrer Krankheit und ihrem Tod als Eltern oder Ärzte vermuten. Um die Kinder an diesen tiefen Punkten zu verstehen, bedarf es häufig nonverbaler Methoden. Kann das Kind seine Gefühle und Bedürfnisse mitteilen, hat das einen positiven Einfluss auf den Sterbeprozess. Dies machte Ulla Baier, Sozialpädagogin an der Münchner Kinderklinik, am Beispiel einer 7-jährigen Patientin deutlich. Cosima, ein aufgewecktes, stürmisches Mädchen, veränderte im Laufe der Behandlung ihr Verhalten. Sie wirkte oft nachdenklich und traurig. Ihre Gefühle drückte sie in Bildern aus, wobei ihr drei Symbole besonders wichtig waren: Der Baum, der Rabe und der Schmetterling. Auf ihrem ersten Bild trägt der Baum noch Früchte, auf dem nächsten verliert er sie. Das letzte Bild - kurz vor ihrem Tod gemalt - zeigt nur noch das skelettartige Geäst eines Baumes auf freier Wiese. Ebenso verändern sich Rabe und Schmetterling. Im Laufe der Bilderserie wird der Rabe immer größer und bedrohlicher. Schließlich begegnet er dem Schmetterling (siehe Bild oben). Im dritten Bild verschwindet der Rabe und der übergroße Schmetterling trifft auf die Sonne. Fast so als hätte sich der Himmel geöffnet, beschreibt Ulla Baier ihren Eindruck. In den letzten Stunden ihres Lebens war Cosima voller Bewusstsein. Sie versammelte die ihr lieb gewonnen Menschen um sich. Sie wollte noch viel tun: Ein Lied singen, Kaffee trinken wie die Großen, ein Legoteil zusammen bauen, eingecremt werden. Bis sie keine Kraft mehr hatte und losließ.
Nicht alle Kinder sterben so friedvoll wie Cosima. Prof. Matthias Griese, München, stellte den Fall eines Patienkardiologisch ten mit Zystischer Fibrose vor: Der 21- jährige Mann erhielt seit der Diagnosestellung im frühen Kindesalter täglich mehrstündige therapeutische Behandlungen, Physiotherapie und Ernährungstherapie. Trotz aller Maßnahmen verschlechterte sich sein Zustand kontinuierlich. Er sprach viel über seine fehlenden Zukunftsperspektiven und betonte immer wieder, dass er nicht mehr ins Krankenhaus wolle. Zu Hause betreute ihn sein Kinderarzt, der sich schließlich - in Absprache mit dem Klinikteam und dem Patienten - für eine Ernährung mittels Sonde entschloss. Der Patient verweigerte allerdings nach sechs Tagen die Sonde. Er nahm keine Nahrung mehr zu sich und hustete bewusst kein Sekret mehr ab. Das, so Matthias Griese ist eine nicht sehr bekannte Möglichkeit, Leben zu verkürzen. Wenige Tage später überwies der Kinderarzt den Patienten in die Klinik. Dort wurden dann in Absprache mit den Ärzten keine weiteren unterstützenden therapeutischen Maßnahmen mehr durchgeführt. Der Patient starb zwei Tage später.
Solche Erfahrungen werfen Fragen nach den rechtlichen Aspekten der Palliativmedizin auf. Auch die nach der bislang selten genutzten Patientenverfügung. Wie sinnvoll und wie verbindlich ist ein solches Schriftstück? Wenn an dem Bett eines todkranken Patienten ein Zettel klebt: "Nicht wiederbeleben", muss sich der Arzt daran halten? Thomas Nicolai, Intensivmediziner am Dr. von Haunerschen Kinderspital, sieht dafür keine generelle Lösung: "In der pädiatrischen Intensivmedizin sind die Prognosen so unterschiedlich und oft auch so unklar, dass jeder Einzelfall das Problem wieder neu stellt. "Eine Patienten- bzw. Elternverfügung macht die Entscheidung nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil, manche Eltern haben bei dem Unterzeichnen des Papiers das Gefühl, ein Todesurteil für einen geliebten Menschen zu unterschreiben. Oft fällt da die mündliche Absprache leichter. Wird die Entscheidung zu einer Notiz in den Akten, besteht überdies die Gefahr, das sich die Arzt-Eltern-Beziehung auf einen Stempel in den Unterlagen reduziert. Wichtig ist aber die kontinuierliche Diskussion mit den Eltern. Deren Einstellung kann sich durchaus von Tag zu Tag verändern.
Wie sieht die optimale Betreuung von sterbenden Kindern aus? Im Mittelpunkt steht das Kind. Ihm zur Seite steht ein Pate, der alle Aktivitäten rund um den Patienten koordiniert. Das Kind wird zu Hause von einem ambulanten Pflegedienst versorgt, welcher in engem Kontakt zur Klinik steht. Diese wiederum bietet Strukturen zur Kurzzeitpflege, um akute Notfälle aufzufangen oder - bei Kindern, die sehr lange krank sind - die Eltern zu entlasten. Diese Rolle können auch Kinderhospize übernehmen. Wichtig ist die psychologische Unterstützung der Eltern und der Geschwister, die auch nach dem Tod des Kindes nicht aufhören darf. Für religiöse und spirituelle Belange muss entsprechend den kulturellen Traditionen des Kindes Raum geschaffen werden. "Das Ziel ist nicht dem Leben unbedingt mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben", fasst Boris Zernikow zusammen.
Erschienen in "hautnah pädiatrie" (04/04), ausgezeichnet mit dem 2. Preis "Fachjournalist des Jahres 2005" der Deutschen Fachpresse.