Vor rund hundert Jahren fragte der amerikanische Psychologe und Philosoph William James in einem wissenschaftlichen Essay "Existiert das Bewusstsein?". Ähnlich provokant stellte am 25. Februar 2006 Professor Hans Förstl, Direktor der Psychiatrischen Klinik der TU München, die Frage "Existiert das Unbewusste?".
Auf der Suche nach einer Antwort lud er Experten aus der Neurobiologie, Philosophie, Anästhesie, Psychologie und Psychosomatik zu einem Fachsymposium nach München ein. Dass die Frage weit über den inneren akademischen Zirkel für Aufregung sorgt, zeigte der Andrang von über 400 Zuhörern, die sich am Samstag Morgen um kurz vor neun Uhr vor dem Hörsaal D des Klinikums rechts der Isar drängelten. Was fasziniert die Menschen am Unbewussten? Welche Gründe gibt es überhaupt noch an seiner Existenz zu zweifeln?
Vom Unbewussten spricht man nicht erst seit Freud, aber der Wiener Nervenarzt hat es berühmt gemacht. Bereits in den Schriften von Descartes (1596-1650) oder Leibniz (1646-1716) spielt das Unbewusste, wenn auch in anderen Worten, eine Rolle. So schreibt Leibniz: "Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, es gäbe keine Wahrnehmungen, derer man sich nicht bewusst ist." Doch noch nie sind die Forscher dem Unbewussten so auf den Leib gerückt wie heute – mit den Methoden der modernen bildgebenden Verfahren wie Kernspin- oder Positronen-Emissions-Tomographie.
So konnten Wissenschaftler beispielsweise mithilfe der Kernspintomographie zeigen, dass eine bestimmte Struktur unseres Sprachzentrums im Gehirn zwischen korrekter oder falscher Grammatik unterscheidet, obwohl die Sätze in einer uns unbekannten Sprache wie beispielsweise Japanisch gesprochen wurden. Ohne dass wir uns darüber im Klaren sind, registriert eine Struktur im Gehirn eine Unstimmigkeit. Unser Gehirn weiß also mehr als wir. "Möglicherweise", so schätzt Hans Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie in Bielefeld, "laufen 95% der Prozesse im Gehirn unbewusst ab".
Kein Grund zur Sorge. Denn das Unbewusste ist nicht nur das von Freud so eindringlich beschriebene Triebhafte, Dunkle, das von unserem Über-Ich unterdrückt werden muss. Es leistet auch schnelle und gute Entscheidungshilfe. Dies zeigte eine Studie, die holländische Wissenschaftler in diesem Jahr im Fachmagazin Science veröffentlichten. Dijksterhuis und seine Kollegen von der Amsterdamer Universität baten ihre Versuchspersonen sich zwischen vier Autos zu entscheiden.
Dafür erhielten die Teilnehmer Informationen über 12 verschiedene Aspekte wie Spritverbrauch, Alter, Übertragungsrate und Fahrverhalten der hypothetischen Fahrzeuge. Während sich die eine Gruppe ohne längeres Nachdenken entscheiden musste, hatte die andere Gruppe Zeit zum Grübeln. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass die Gruppe der "spontanen Entscheider" sich viel häufiger für das objektiv bessere Auto entschieden als die Gruppe der "Grübler". Sich auf sein Bauchgefühl zu verlassen, scheint von Vorteil zu sein. Dies gilt allerdings nur – so fanden die Forscher heraus – bei besonders komplexen Entscheidungen.
Mithilfe solcher Studien ist es möglich, einen Einblick in das Unbewusste zu erhaschen. Andere Experimente wiederum zeigen, wie Bewusstes ins Reich des Unbewussten verbannt werden kann. Wissenschaftler der US-amerikanischen Stanford Universität entdeckten in Untersuchungen mit der funktionellen Kernspintomographie Gehirnregionen, die besonders aktiv beziehungsweise inaktiv sind, wenn Erinnerungen vergessen werden. Die Nervenzellen eines bestimmten Gebiets im Vorderhirn feuern besonders stark, während eine Struktur unseres Gefühls- und Gedächtniszentrum, der so genannte Hippocampus, auffallend ruhig bleibt. Diese Ergebnisse interpretieren die Autoren dieser Studie als "neurobiologische Modell der bewussten Verdrängung wie sie von Freud beschrieben wurde."
Andere Zeichen aus dem Unbewussten entdeckten Mediziner eher unfreiwillig. Immer wieder berichten Patienten nach der Narkose, dass sie Erinnerungen an die Operation haben. In der berühmten Levinson-Studie aus den 60er Jahren erinnerten sich acht von zehn Patienten unter Hypnose an einen – während der Operation simulierten – Narkosezwischenfall. Vier Patienten konnten sogar den genauen Wortlaut der Unterhaltung wiedergeben. Inzwischen hat sich die Anästhesie weiterentwickelt und fast jeder Patient verschläft seine Operation ohne traumatische Erinnerung. Aber eben nicht alle.
"Ungefähr 0,1-0,2% der Patienten erinnern sich an Momente von Wachheit während ihrer Operation", schätzt Dr. Gerhard Schneider von der Klinik für Anästhesiologie im Klinikum rechts der Isar. Die Häufigkeit unbewusster Erinnerung dürfte deutlich darüber liegen. Auch muss die Wachheit während der Operation nicht zwingend direkt abrufbare, bewusste Erinnerung nach sich ziehen. Trotzdem findet eine Speicherung von Inhalten statt, die unter Umständen Fühlen und Handeln beeinflussen. Möglicherweise stellt also die Allgemeinanästhesie ein perfektes Werkzeug dar, um das Unbewusste zu erforschen.
Der laxe Umgang mit dem Begriff des "Unbewussten" lässt Philosophen erschauern. So vermutet beispielsweise der Neurophilosoph und Psychiater Prof. Georg Northoff von der Universität Magdeburg, dass jeder der 400 Zuhörer im Vorlesungssaal eine eigene Definition des Unbewussten hat. "Das Unbewusste", so Northoff, "beinhaltet Prozesse und Materialien, zu denen wir keinen Zugang haben." Dabei unterscheidet er zwischen verschiedenen Stufen des Unbewussten: dem prinzipiellen, dem psychologischen und dem dynamischen Unbewussten.
Während das prinzipielle Unbewusste keine Möglichkeit des Zuganges zu Funktionen des Gehirns hat (schon alleine deswegen, weil im Gehirn selbst keine sensorischen Rezeptoren vorhanden sind), fehlt dem psychologischen Unbewussten der Zugang zu psychologischen Prozessen. Das dynamische Unbewusste – auch Vorbewusstes genannt – bringt nun die Resultate dieser verborgenen Prozesse wie die Spitze eines Eisberges, die hin und wieder aus dem dunklen Meer auftaucht, an die Oberfläche des Bewusstseins.
Wir bekommen von unserem Unbewussten somit nur fertige Resultate quasi als Menü "serviert", wohingegen der Prozess des Kochens, das was in der Küche – im Gehirn – abläuft, vor uns verborgen bleibt. Ein Grundproblem bleibt dabei immer bestehen. Über das Gehirn können wir nie objektiv Erkenntnis gewinnen, denn das womit wir die Erkenntnis gewinnen, unser Gehirn, ist immer auch das worüber wir die Erkenntnis gewinnen wollen. Denker und Betrachtetes sind eins, wie es schon Schopenhauer in einem so genannten "Gehirn-Paradox" formulierte.
Nach allgemeiner Auffassung hat das Bewusstsein seinen Sitz in unserem stammesgeschichtlichen jüngsten Gehirngebiet, dem Kortex. "Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen jedoch, dass auch tiefer gelegene, so genannte subkortikale Areale, eine wichtige Rolle für das Bewusstsein spielen", berichtet Professor Dieter Braus, Neurologe und Psychiater im Universitätsklinikum Hamburg. Ähnlich schwer ist die Ortung des Unbewussten im Gehirn. Noch gibt es zuwenig Studien, aus denen sich ein Gesamtbild puzzeln ließe. Das Unbewusste bleibt ein dunkler Kontinent. Einen Ausweg aus der Finsternis bietet die philosophische Antwort auf die Frage nach dem Sitz des Unbewussten: "Das Unbewusste", so Prof. Northoff, "sitzt nicht im Gehirn, nicht in der Psyche und nicht im Geist, sondern in der Beziehung zwischen Organismus und Umwelt."
Das Unbewusste gehört nicht uns allein. Auch Hunde träumen. Aber Roboter? "Seit etwa zehn Jahren gibt es Computermodelle, mit denen die neuronale Dynamik von Emotionen simuliert wird, die unbewusst unser Handeln bestimmen", führt Prof. Klaus Mainzer aus, Direktor des Augsburger Instituts für Interdisziplinäre Informatik. Längst werden in der Informatik so genannte Entdeckungsverfahren eingesetzt, mit der Entdeckungen und Problemlösungen - ohne menschliches Bewusstsein - realisiert werden können. In der Zukunft sind daher durchaus Roboter denkbar, die ihre eigenen Erfahrungen machen, Körperempfindungen entwickeln, Träume, Neurosen und Psychosen haben. "Ein emotional empfindender und reagierender Roboter ist keine Sciencefiction Vision", so Prof. Mainzer, "sondern gehört fest zum Entwicklungsprogramm der japanischen Roboterindustrie, die solche Geräte für die Altenpflege entwickelt."
Dass wir heute Begriffe wie Verdrängung und Trauma ohne mit der Wimper zu zucken verwenden, war nicht immer selbstverständlich. Freuds Konzept war lange Zeit umstritten und wurde von der Wissenschaft nur mit der Kneifzange angefasst. "Inzwischen hat sich aber ein großer Wandel vollzogen", berichtet Professor Peter Henningsen, Direktor der Psychosomatik im Klinikum rechts der Isar. Freuds Annahme des Unbewussten lässt sich heute mit modernen wissenschaftlichen Methoden bestätigen. "Allerdings", so Henningsen weiter, "sind Teile des Freudschen Konzepts inzwischen überholt." Dazu zählt er beispielsweise die Vorstellung, dass die Primärprozesse des Unbewussten stets primitiver und archaischer Natur sein müssten. Das Unbewusste kann auch dabei helfen komplexe und logische Zusammenhänge herzustellen wie das oben erwähnte Beispiel der spontan richtigen "Auto-Entscheidung" zeigt.
Wenn sich aber nun alle – ob Neurologen, Philosophen, Psychiater oder Psychotherapeuten – einig sind, dass das Unbewusste existiert, warum ist der Titel des Symposiums dann als Frage formuliert? Existiert das Unbewusste? "Nein", antwortet darauf der Gastgeber Professor Förstl und möchte provozieren. "Ich wehre mich gegen die strikte Trennung zwischen Bewusstem und Unbewusstem." Vielmehr versteht Förstl – auch in Anlehnung an der amerikanischen Psychologen William James (1842-1910) – das Bewusstsein als ständigen Strom. In diesem Strom fließen alle unsere Wahrnehmungen und Empfindungen, auch die, für die wir wenig Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen. Was dem Menschen nicht durch das Bewusstsein strömt, hat auch nichts mit ihm zu tun.
Vielleicht gilt ja für das Unbewusste das, was William James ähnlich literarisch wie sein Bruder Henry vor rund einem Jahrhundert über das Bewusstsein gesagt hat: "Ich glaube, dass das Bewusstsein, wenn es einmal in diesen Zustand der puren Transparenz verflogen ist, an einen Punkt gelangt, an dem es ganz und gar verschwindet. (...) Diejenigen, die immer noch daran klammern, klammern sich bloß an ein Echo, das entfernte Gemurmel, zurückgelassen von einer verschwindenden "Seele" im Lüftchen der Philosophie."
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Teilnehmer des Symposiums
Prof. Dr. Dieter Braus, Neurologe und Psychiater, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Dr. Horst Schmidt Klinik (Klinikum der Landeshauptstadt) in Wiesbaden.
Prof. Dr. Hans Förstl, Psychiater, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Prof. Dr. Peter Henningsen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik, Psychotherapie und medizinische Psychologie im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Prof. Dr. Klaus Mainzer, Wissenschaftsphilosoph, Direktor des Augsburger Instituts für Interdisziplinäre Informatik
Prof. Dr. Hans Markowitsch, Neuropsychologe, Leiter der Physiologischen Psychologie der Universität Bielefeld
Prof. Dr. Dr. Georg Northoff, Psychiater und Philosoph, Direktor der Labors für Funktionelles Imaging und Neurophilosophie, Universität Magdeburg
Priv.-Doz. Dr. Gerhard Schneider, Anästhesist, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Zitierte Studien
Anderson C. et al: Neural Systems Underlying the Suppression of Unwanted Memories. Science. 2004 Jan 9;303(5655):232-5.
Dijksterhuis A. et al: On making the right choice: the deliberation-without-attention effect. Science. 2006 Feb 17;311(5763):1005-7.
Musso M. et al: Broca's area and the language instinct. Nat Neurosci. 2003 Jul;6(7):774-81.
Verfasst für die TU München (02/06), publiziert auf der Webseite www.med.tum.de