Wieder mehr Zeit haben

Wie man lernen kann, besser mit seiner Zeit umzugehen.

Zeitmanagement – das klingt erst einmal nach planen, ordnen, Listen schreiben und abarbeiten. Also genau das, was einem so gar nicht gelingen will, wenn man immer mit dem Gefühl durchs Leben hetzt „Keine Zeit, bin im Stress“. Aber modernes Zeitmanagement geht anders. Träumen, loslassen, eigene Werte finden, selbst bestimmt leben – das sind die Ausgangspunkte für ein Leben im Einklang mit der Zeit.

Werte finden

Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2009 empfinden acht von zehn Deutschen ihr Leben als stressig, jeder Dritte leidet unter Dauerdruck. Obwohl wir dank moderner Technik von Waschmaschine bis Computer immer mehr Zeit einsparen, fühlen wie uns kollektiv immer gestresster. Warum sind wir in die Zeit-Falle getappt? „Unsere Arbeitswelt ist unplanbarer, komplexer und schneller geworden“, erklärt der Zeitmanagement-Experte Prof. Lothar Seiwert. „Und auch unsere innere Einstellung fördert die Hetze: Wir wollen immer mehr und am besten sofort.“ Seiwert, 58, gilt als einer der führenden Zeitmanagement-Experten Europas. Seine Ratgeberbücher sind Bestseller und wurden in 30 Sprachen übersetzt.

Zeitmanagement heißt für ihn, sein Leben wieder in eine Balance zu bringen: eine ausgewogene Mischung zu finden aus Arbeit und Freizeit, Muss und Muße, Handeln und Faulsein. Das dieses Gleichgewicht aus dem Lot gerät, liegt unter anderem daran, dass wir das Wesentliche aus den Augen verlieren. Was ist uns wirklich wichtig – Karriere, Familie, Sicherheit, Geld? Sind das auch wirklich unsere eigenen Werte? Wenn ja, was kommt davon für uns an erster, zweiter oder letzter Stelle? Lothar Seiwert empfiehlt Menschen mit Zeitproblemen, sich zunächst über ihren ganz persönlichen Werte-Kodex Gedanken zu machen und das Ergebnis aufzuschreiben. Nicht selten fällt dabei auf, dass Werte im Konflikt miteinander stehen: Unabhängigkeit und Sicherheit, Beruflicher Erfolg und Familie. So sehr die Gegensätze auch quälen, es ist gut, Prioritäten zu setzen und sich bewusst für das zu entscheiden, was gerade im Leben wichtig ist. "Prioritäten sind wie Geschmack. Sie beruhen auf unseren eigenen Vorlieben. Niemand anderer kann sie für uns setzen", betont Seiwert.

Eine Lebensvision entwickeln

Wenn wir etwas wirklich wollen, wenn wir unserem eigenen roten Faden folgen, empfinden wir die verstrichene Zeit als wertvoll und erfüllt. Damit uns das öfters gelingt, ist es wichtig, seine Lebensvision zu kennen. Oft wagen wir gar nicht mehr, Wünsche und Träume zu haben. "Lässt sich doch sowieso nicht realisieren", sagt unser Verstand. Doch es geht nicht darum, die Vision eins zu eins wahr werden zu lassen. Es reicht, ihr zu folgen, und auf dem Weg dorthin das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Was ist mein größter Wunsch, was ist meine persönliche Vision? Wie auch schon beim Thema Werte hilft es, sich das Ergebnis aufzuschreiben. Was einmal schwarz auf weiß auf Papier steht, entwickelt ein Eigenleben und lässt einen so schnell nicht wieder los.

Manchmal brauchen wir Zwangspausen, um uns zu vergegenwärtigen, was eigentlich unser größtes Ziel ist. Jürgen Staude, pensionierter Zahnarzt aus München, erinnert sich, dass er eines Tage mit einem Freund im Skilift stecken blieb. Diese unerwartete Pause füllten die Freunde mit einem Gespräch. Was würdest du tun, wenn du keine Verpflichtungen hättest? Jürgen Staude, damals 35 Jahre alt und erfolgreicher Praxisinhaber, fing an zu träumen: Mit dem eigenen Segelboot um die Welt reisen. Ein ziemlich abwegiger Traum für jemanden, der noch kaum Segelerfahrung hatte. Sein Freund sagte nur: Dann mach doch. Drei Jahre später hatten Jürgen Staude und seine Frau die Praxis verkauft, Segelscheine gemacht, sich Darwins Reiseberichte besorgt und stachen in See. Heute ist er 69 und verfolgt nach wie vor seine Träume. Sie haben sich mit der Zeit gewandelt. Aber die Erfahrung hat ihn geprägt. "Ich kann es nicht leiden, wenn mir die Zeit wie Sand zwischen den Fingern verrinnt."

Es muss nicht immer der Segeltörn um die Welt sein. Ziele verwirklichen kann man üben, indem man mit kleinen Zielen anfängt. Am Anfang steht das Aufschreiben. "Mir die Sonntage für die Familie freihalten", "einmal die Woche mit einer Freundin joggen", "einen Computerkurs besuchen". Je konkreter, realistischer und positiver das Ziel definiert wird, desto besser sind die Erfolgschancen. Also statt zu schreiben „Ich will nicht mehr jedes Wochenende arbeiten", heißt es besser: "Ich möchte mir ab August zwei Sonntage im Monat freihalten".

Vom Lebensplan zum Tagesplan

Zuerst kommt der Lebensplan, dann folgen Schritt für Schritt Tages-, Wochen- und Jahresplan. Mit einem großen Ziel in der Ferne und kleinen Etappenzielen vor Augen werden übervoll gepackte Tage automatisch seltener. Planung und Struktur können dabei weiterhelfen. Mit ein paar Minuten Planung lässt sich täglich eine Stunde Zeit einsparen. Ganz klassisch gehört dazu, sich alle Aufgaben, die für einen Tag anliegen, zu notieren. Sieben bis zehn Listenpunkte ergeben einen realistischen Tagesplan. Für strukturierte Denker kein Problem. "Kreativ-chaotische Menschen beißen sich an solchen Vorgaben allerdings die Zähne aus", berichtet Cordula Nussbaum. Die Münchner Ratgeberautorin gibt Seminare und coacht Menschen zum Thema Zeitmanagement. Dabei spielt sie auch schon mal „Schatten“ und begleitet Kunden einen Tag lang bei der Arbeit. Aus ihrer Erfahrung hat sie das klassische Zeitmanagement speziell für "kreative Chaoten" abgewandelt. Statt eine kompakte Tagesliste zu erstellen, packt der Kreative seine Ideen am besten in eine reisende To-Do-Sammlung. "Dort hinein darf jede Idee, jeder Plan, jedes Versprechen – eben alles, was man sich für den Tag wünscht und vorgenommen hat", erklärt Cordula Nussbaum. So kommen leicht über 30 Aufgaben zusammen, die sich natürlich nicht an einem Tag erledigen lassen. Kein, Problem, die ganze Sammlung reist einfach mit durch die Woche und nach und nach erledigen wir Dinge davon und loben uns dafür. "Wichtig ist dabei: nicht alles, was wir aufgeschrieben haben müssen wir auch wirklich tun. Denn einiges erschien vielleicht attraktiv, verliert aber mit Abstand seinen Glanz", erklärt Cordula Nussbaum. Priorität haben die Dinge, die einen näher an die Lebensziele heranbringen.

Mut zur Langsamkeit

Allein durch die Beschäftigung mit unserer Zeit, verändert sich unsere Wahrnehmung. Mancher erkennt, dass seine Tage viel zu voll gestopft sind. Ein anderer erkennt, dass er zwar alles erledigt, aber gar nichts genossen hat. In der Regel wird eines deutlich: Spaß, Freundschaften und Lebensfreude kommen oft viel zu kurz.

Immer mehr Menschen wünschen sich eine Entschleunigung ihrer Zeit und wiedersetzen sich bewusst dem ständigen Termindruck. Sie erledigen ihre Arbeit langsam, aber besser. Sie nennen sich Slobbies (langsam, aber besser arbeitende Menschen, aus dem Englischen: slow but better working people) und sind Teil einer wachsenden Bewegung, in der Lebensqualität mehr zählt als Abarbeiten. Sie treffen sich zu Zeitlupen-Kursen oder finden sich in Slow-Food-Seminaren. Sie suchen nach ihrem eigenen Zeitrhythmus und finden ihn mithilfe von Yoga, Meditation, Gärtnern, Spazieren gehen oder auch einfach mal: gar nichts tun.

 

 

Der Text erschien 2010 in etwas gekürzter und veränderter Form in der Apotheken Umschau .

 

Keine Zeit haben heißt: Ich habe den Blick für das Wesentliche verloren.
Punkt eins im Zeitmanagement: einfach mal wieder träumen.
karl ender / Photocase.com (variiert von f. Huebener)
Was ist mir eigentlich wichtig?
Nachdenken im Sessellift.
Einmal um die Welt? Dann mach doch.
Auch kreative Chaoten kriegen ihre Zeit in den Griff.
Um die Ecke denken, um schneller anzukommen.
Ich bin langsam und das ist auch gut so.
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