Interview mit Dr. Gerd Antes, Leiter des deutschen Cochrane Zentrums.
Alle fünf Jahre verdoppelt sich das medizinische Wissen. Kommen die neuen Erkenntnisse beim Patienten an?
Nein, es gibt bislang kein System, dass Ärzte zuverlässig mit aktueller Information versorgt. Daher behandeln Ärzte unter Umständen nach veraltetem Kenntnisstand. Wir wissen aus Untersuchungen, dass dadurch Tausende von Menschen zu Schaden kommen. Ein besonders drastisches Beispiel verdeutlicht das Ausmaß des Problems. In den 70er und 80er Jahren erhielten Herzinfarktpatienten ein Medikament, um den Herzrhythmus zu stabilisieren. 1980 deutete eine Studie daraufhin, dass dadurch mehr statt weniger Patienten verstarben. Doch erst zehn Jahre später wurde diese Erkenntnis nach einer weiteren umfassenden Untersuchung umgesetzt. Durch diesen verzögerten Wissenstransfer starben pro Jahr mehr US-Amerikaner als durch den Vietnamkrieg.
Warum kommt neues Wissen erst so spät in der Praxis an?
Das ist weltweit ein Problem, aber in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Wir haben keinen Mechanismus, der dafür sorgt, dass die wichtigsten neuen Ergebnisse systematisch in übersichtlicher Form bei den Ärzten ankommen. Kein Mediziner hat die Zeit, sich dieses Wissen selbst anzueignen. Im Grunde müssten die Ärzte einfordern, dass ihnen behandlungsrelevantes Wissen frei Haus geliefert wird. Diese Forderung stellen sie jedoch nicht, weil ihnen die Tragweite des Problems noch nicht bewusst ist. Hinzu kommt, dass Schätzungen zufolge über 80% der Mediziner keine englischen Artikel lesen wollen oder können, alle wichtigen Ergebnisse aber in Englisch publiziert werden.
Ärzte erhalten doch beispielsweise über deutschsprachige Fachzeitschriften eine Auswahl der aktuellen Studien und auch Empfehlungen für die Praxis. Reicht das nicht aus?
Nein, da sehe ich eine katastrophalen Mangel. In Fachzeitschriften gibt es keine systematische Darstellung der aktuellen Studienlage. Dort werden mehr oder weniger zufällig Studien aufgegriffen. Zudem finanzieren sich viele Fachzeitschriften über Anzeigen der Pharmazeutischen Industrie. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Auswahl der Studien auch im Dienste der Anzeigenkunden erfolgt.
Interessanterweise wird der Wissenstransfer eher von Publikumsmedien als von Fachzeitschriften geleistet. In den letzten Jahren hat sich die Qualität des Wissenschaftsjournalismus erheblich verbessert. Zeitschriften, Radio- oder Fernsehsender räumen medizinischen Themen immer mehr Platz ein
Machen wir in Deutschland überhaupt genügend klinische Studien, um neue Therapien zu erproben?
Andere Länder wie beispielsweise USA, England oder Dänemark führen bis zu zehnmal mehr öffentlich finanzierte Medikamenten- und Therapiestudien durch als wir. Nicht selten ist Deutschland zwar an der Erforschung der Grundlagen beteiligt, bleibt aber bei den entscheidenden Medikamentenstudien außen vor. In den 70ger Jahren entdeckte Prof. Harald zur Hausen, dass Gebärmutterhalskrebs von Viren ausgelöst wird. Dafür erhielt er im letzten Jahr den Nobelpreis. Die kürzlich durchgeführten Studien für den Wirksamkeitsnachweis des Impfstoffes fanden in 13 Ländern statt – Deutschland war nicht dabei. Hier besteht enormer Aufholbedarf.
Was sollte ihrer Meinung nach geschehen?
Zunächst müsste sicher gestellt werden, dass die wichtigsten Veröffentlichungen den Ärzten in Englisch und wenn möglich auch in Deutsch frei Haus geliefert werden. In einem zweiten Schritt sollten die Ergebnisse in einer laiengerechten Form auch Patienten zugänglich gemacht werden. Die Vision dabei ist, dass Information so verlässlich wie Strom aus der Steckdose kommt.
Damit ist ja immer noch nicht sicher, dass neue Erkenntnisse auch in neue Therapien münden.
Das stimmt. Die meisten Mediziner sind überlastet und müssen ihre Wochenenden opfern, um sich auf den neuesten Kenntnisstand zu bringen. Auch die starren Hierarchien in den Kliniken laden nicht gerade zu Veränderungen ein. Was der Chefarzt einmal eingeführt hat, wird der Assistenzarzt so schnell nicht über den Haufen werfen. Daher wäre es gut, wenn Ärzte belohnt werden, die sich fortbilden und die ihre Behandlung auf eine wissenschaftlich fundierte Basis stellen.
Welche aktive Rolle kann der Patient dabei spielen, dass verlässliche Studienergebnisse als Grundlage seiner Therapie dienen?
Eine große Rolle. Ich rate jedem Patienten, sich so gut es geht zu informieren und mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das heißt auch, dass sich das Arzt-Patientenverhältnis verändert. Ziel ist ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Damit sind aber noch viele – Ärzte und Patienten – überfordert.
Außerdem sollten Patienten auch mehr Unterstützung für ihre Belange einfordern: Geld für klinische Studien, Geld für den Transfer von Wissen zum Arzt und zum Patienten, kein Geld für überflüssige Therapien.
Der Beitrag erschien 2009 (Ausgabe 5A) in der Apotheken Umschau