Forschung, Pharma und Profit

"Was auch immer sie hier hören, es muss vertraulich behandelt werden“, beginnt eine Doktorandin ein Seminar. Sie stellt die Ergebnisse ihrer Doktorarbeit vor. Nein, das Medikament habe die Hoffnung ihrer Auftraggeber nicht erfüllt. In keiner einzigen Testreihe schnitten die Testpersonen besser ab als die Teilnehmer der Kontrollgruppe. Schade für die auftraggebende Pharmafirma. Schade für die Doktorandin, denn eine Studie ohne positives Ergebnis wird selten veröffentlicht. Beide Seiten sind sich einig: Eine neue Studie muss her. Sie bringt schließlich das erwünschte positive Ergebnis und wird publiziert.

Schönheitstricks für Studien

"Es gibt eine systematischen Verzerrung in den Forschungsergebnissen, die von der pharmazeutischen Industrie gesponsert werden", so das Fazit von Joel Lexchin. Der kanadische Gesundheitsexperte veröffentliche im British Medical Journal eine umfangreiche Übersichtsarbeit zum Thema "Pharma und Forschung". Gesponserte Studien unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Qualität von nicht gesponserten Studien. Jedoch werden erstere deutlich später veröffentlicht, verschwinden manchmal in der Schublade und favorisieren – wenn veröffentlicht – in der Regel das eigene Produkt. Das geschieht unter anderem dadurch, dass das Produkt mit einer nicht gleichwertigen Substanz oder mit einer vergleichbaren, aber niedriger dosierten Substanz verglichen wird. Laut einer Analyse von Justin Bekelman im Fachmagazin JAMA kommen industriefinanzierte Studien viermal häufiger zu einem positiven Ergebnis für das Produkt des Sponsors als Forschungsergebnisse, die von den US-amerikanischen "National Institutes of Health" (NIH) finanziert wurden.

Der Schubladenvorbehalt

Um den "Schubladenvorbehalt“ der Pharmafirmen zu unterdrücken, half bislang nicht viel. Die US-amerikanische Forderung im Rahmen des Food and Drug Modernization Act von 1997, alle wichtigen Behandlungsstudien vorab registrieren zu lassen, konnte nie richtig durchgesetzt werden. Wenn alle Studien noch vor der Datensammlung in eine Liste eingetragen werden, so die Hoffnung, sollte man später herausfinden können, welche Studien unveröffentlicht in der Schublade verschwunden sind. Allerdings meldete die Pharma-Industrie weniger als die Hälfte der registrierungspflichtigen Studien an. Erst nachdem sich 2004 die Redaktionen der Top Medical Journals dazu entschieden, nur noch Studien zu veröffentlichen, die zu Beginn registriert worden waren, stieg die Zahl der Meldungen. Blieb immer noch ein Ausweg für die Industrie, um unerwünschte Ergebnisse zurückzuhalten: anmelden ja, veröffentlichen – mal sehen.

Nur sechs Prozent werden veröffentlicht

Scott Ramsey und John Scoggins vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Washington, USA, untersuchten in ihrer 2008 veröffentlichten Arbeit, wie sich das Verhältnis zwischen veröffentlichten und unveröffentlichten Studienergebnissen im Bereich der Onkologie entwickelt hat. Sie durchsuchten die seit 1999 unter ClinicalTrials.gov registrierten onkologischen Studien und verglichen sie mit denen unter PubMed.gov veröffentlichten. Insgesamt fanden sie 2.028 registrierte und beendete Behandlungsstudien. Studien, die von unabhängigen wissenschaftlichen Netzwerken ausgingen, kamen in 59Prozent der Fälle zur Publikation. Industriegesponserte Untersuchungen hatten mit 6 Prozent die geringste Chance, veröffentlicht zu werden. Insgesamt wurden von den rund 2.000 Studien 18 Prozent veröffentlicht. Studien, die vor 2004 registriert wurden, hatten eine größere Chance veröffentlicht zu werden (21,0 Prozent) als später registrierte Studien (11,9 Prozent). Die meisten der 357 publizierten Ergebnisse waren positiv (64,5 Prozent). Industriegesponserte Studien kamen besonders häufig zu positiven Schlüssen (75 Prozent).

Für die Autoren sind diese Ergebnisse Anzeichen für einen nach wie vor bestehenden Publikations-Bias. Sie nehmen an, dass die nicht publizierten Daten zu einem weitaus größeren Teil als die veröffentlichten Studien negative Resultate haben. "Wenn durch die selektive Veröffentlichung das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Krebstherapien beeinflusst wurde, fällen Ärzte und Patienten möglicherweise Therapieentscheidungen, von denen sie nicht profitieren", so Ramsey und Scoggins.

Aus Wirkung wird Zufall

Wie stark ein systematischer Publikations-Bias das Ergebnis verzerren kann, demonstrierten Erick Turner und Kollegen 2008 im New England Journal of Medicine. In ihrer Analyse zur Wirkung von Antidepressiva fanden sie in 94 Prozent der publizierten Studien eine positive Wirkung. Schlossen sie die unveröffentlichten Studien mit ein, reduzierte sich diese Zahl auf ernüchternde 51 Prozent.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesens (IQWIG) sucht daher in seinen Medikamentenbewertungen immer auch nach unveröffentlichten Studienergebnissen. Doch die rücken Firmen ungern raus. Erst nach großem Druck übergab der Hersteller des 1997 zugelassenen Antidepressivums Reboxetin unveröffentlichte Daten an das IQWIG. Mit der ganzen Palette an Studiendaten zog das Institut dann den Schluss, dass Reboxetin keinen Nutzen hat. Die veröffentlichten Daten hatten dagegen einen Nutzen suggeriert. "Der Vorgang unterstreicht erneut, wie notwendig eine verbindliche Regelung ist, wonach alle klinischen Studien bei Beginn registriert und ihre Ergebnisse nach Abschluss veröffentlicht werden müssen", schreibt das IQWIG in seinem Abschlussbericht Ende 2009. 

Wichtiger als Forschung: das Marketing

Doch selbst wenn man den Publikations-Bias herunterschrauben könnte, gibt es weitere Möglichkeiten, die Forschungsergebnisse und die Erfolgschancen eines Medikaments zu beeinflussen. Für das Marketing geben Pharmafirmen deutlich mehr aus als für die Entwicklung neuer Medikamente. Marc-André Gagnon präsentierte 2008 im Fachmagazin PloS Zahlen: Demnach steckten US-amerikanische Arzneifirmen im Jahre 2004 knapp 40 Milliarden Dollar in Werbemaßnahmen, rund 20 Milliarden in Forschung und Entwicklung. "Wir brauchen neue Strategien, um frühzeitig an Ärzte, am besten Assistenzärzte mit Chefarztqualitäten, heranzukommen", so eine Agentin, die für Pharmafirmen arbeitet. Erst werden die aufstrebenden Ärzte und Forscher umhegt, später mit gut dotierten Vortragsreisen und großzügigen Forschungsgeldern bedacht. Im Gegenzug wird unausgesprochen erwartet, dass der Arzt, der sich in seinem Fach inzwischen zum so genannten Meinungsbildner gemausert hat, wirkungsvoll für die entsprechenden Produkte einsetzt. Die beteiligten Ärzte halten sich in der Regel für unabhängig.

Die schwächsten Glieder in der Kette

Über Fehltritte und Verquickungen von Ärzten und "Big-Pharma" wird regelmäßig in der Presse berichtet. Aber die Akteure sind vorsichtiger geworden. Da es den Pharmafirmen immer schwerer fällt, an die Ärzte heranzutreten, versuchen sie es auch über den Umweg Patient. „Die Industrie richtet sich auf die Veränderungen ein“, schreibt Jörg Breitenbach, Mitarbeiter der Pharma-Firma Abbott, in einem Schlusswort in dem 2007 erschienenen Buch "Die Pharmaindustrie: Einblick – Durchblick – Perspektiven" und zwar " ... vor allem mit der Annäherung an den Patienten...". Selbsthilfegruppen und Patienteninformationsveranstaltungen kommen so in den Genuss von Sponsorengeldern, die passenden Flugblätter liefert der Medikamentenhersteller gleich mit.

Wer wissen will, welcher Patientenverband von welcher Pharmafirma Zuwendungen erhält, findet unter www.pharmafiles.net die entsprechende Liste. So fördert beispielsweise Schering-Plough (jetzt Teil von Merck & Co) den Deutschen Psoriasis Bund DPB und den Europäischen Psoriasis Verband EUROPSO. Schering-Plough vermarktet das Psoriasis-Biological Infliximab (Markenname: Remicade). Eine kritische Haltung gegenüber dem Biological wird Patientenverband bei so einem Sponsor schwer fallen.

Doch angesichts der beeinflussten Forschung müssten gerade Patientenorganisationen besonders kritisch sein. Immer wieder werden Medikamente vom Markt genommen, weil sich Jahre später herausstellt, dass sie nichts nützen oder sogar schaden. Zu den "Irrläufern" gehörten Blockbuster wie das Schmerzmittel Rofecoxib (Markenname: VIOXX) oder der über dreißig Jahre verkaufte Wirkstoff gegen Hautausschlag Bufexamac (zum Beispiel enthalten in Faktu akut). Ersteres erhöhte die Herzinfarktrate, zweites führt – ironischerweise – selbst zu Hautausschlag. 2009 wurde Efalizumab (Markenname: Raptiva) vom Markt genommen, da es bei Langzeitgabe die Gefahr für eine Nervenerkrankung erhöht. Januar 2011 zog die Firma Abbott ihren Zulassungsantrag für das Psoriasis-Biological Briakinumab (geplanter Markenname: Ozespa) zurück, vermutlich weil der Verdacht besteht, dass Briakinumab das Risiko für Herzkreislauferkrankungen erhöht.

Ohne Partner geht es (noch) nicht

Das Misstrauen gegenüber den Pharmafirmen ist groß. Und "Pharma-Bashing", also das generelle Unterstellen unlauterer Absichten in der Pharmaindustrie, ein beliebtes Journalistenthema. Aber ohne Pharma keine Forschung. Der Großteil der klinischen Studien ist von Pharmafirmen mitfinanziert. In den meisten Fällen outen die Studienautoren am Ende der Publikationen ihre Verbindungen zur Industrie. Kaum eine Forschungseinrichtung in Deutschland kann sich den finanziellen Aufwand leisten, den der Weg eines potenziellen neuen Wirkstoffs vom Labor in die Apothekerschränke kostet. Laut Selbstauskunft der Pharmaindustrie kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments 800 Millionen Euro. "Wenn das wahr ist, und es sich tatsächlich um reine Forschungs- und Entwicklungskosten handelt, dann muss ich sagen, dass die Industrie ihr Geld verschwendet", sagt ein deutscher Krebsforscher, der ungenannt bleiben will. Marcia Angell, ehemalige Herausgeberin des renommierten Fachmagazins New England Journal of Medicine, schätzt die Entwicklungskosten eines Medikaments mit 100 Millionen Dollar weitaus geringer ein. Immer noch viel Geld, das ein Universitätsklinikum nicht aus der Kaffeekasse bezahlt. Die klinische universitäre Forschung ist in der Regel chronisch unterfinanziert. "Es gibt so gut wie keine öffentlich rechtlichen Gelder, um Kenntnisse aus der Grundlagenforschung in die Klinik zu übertragen", berichtet eine Ärztin und Wissenschaftlerin eines Universitätsklinikums.

Viel Geld, wenig Ideen

Auch das Modell "Spin-Off", also die Gründung kleinerer Firmen aus einer öffentlichen Forschungseinrichtung, ist oft keine Alternative. Trotz viel versprechender Forschungsergebnisse trauen sich Venture Capital-Firmen selten an Projekte, die langen Atem brauchen. Und den braucht man in der Frühphase der Medikamentenentwicklung. "Die heutigen Venture Capital Finanzierungen behindern Innovation. Meiner Meinung nach ist das kriminell. Hier müsste der Staat eingreifen", erklärt der Krebsforscher. Die öffentlichen Forschungseinrichtungen haben zwar in der Regel wenig Geld, aber an kreativen Köpfen mangelt es ihnen nicht. In der Industrie sieht es laut Marcia Angell umgekehrt aus. "Die Industrie wartet darauf, dass sie von außen gefüttert wird. Sie tritt auf der Stelle und hofft darauf, dass Universitäten und Biotechnologiefirmen eine Fülle neuer Ideen produzieren", schreibt die Medizinerin in ihrem Buch "The truth about the drug companies". Doch eine noch größere Menge an guten Ideen schafft es nicht aus dem Labors der Grundlagenforscher, weil Investoren fehlen. Auch die großen Pharmafirmen trauen sich nicht an eine Substanz, deren Erfolg nicht zu fast 100 Prozent absehbar ist. Eine Menge von guten Entwicklungsmöglichkeiten ist deswegen bereits im Papierkorb gelandet.

Mut zur Unabhängigkeit

Damit die Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen gegenüber den Pharmafirmen als starke Partner auftreten können und nicht als Bittsteller, müsste ihnen finanziell und rechtlich der Rücken gestärkt werden. Wie wichtig eine unabhängige Forschung und die enge Verzahnung von Grundlagen- und klinischer Forschung ist, hat auch der Staat erkannt. Seit einigen Jahren existieren Programme, mit denen die Schnittstelle von Labor und Klinik sowie von akademischen Wissenschaftlern ausgehende – so genannte "investigator initiated studies" – gefördert werden sollen. Zu diesen Programmen zählen etwa die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ins Leben gerufenen Projekte "Koordinierungszentren für klinische Studien", "Integrierte Forschungs- und Behandlungszentren" und die "Pharma-Initiative". Die Max Planck Gesellschaft hat ein "Lead Discovery Center" gegründet, das medizinisch interessante Substanzen bis zur vorklinischen Phase fördert. Dabei ist das BMBF ausdrücklich an einer Kooperation zwischen staatlich geförderten Einrichtungen und der Industrie interessiert. "Wir brauchen die Industrie", betont Viola Klamroth von der BMBF-Pressestelle. Kooperation klingt gut. Doch es bleibt zu hoffen, dass die finanziell schwächeren Partner "Big Pharma" gleichberechtigt auf Augenhöhe begegnen können. Nur wenn es die Ideen der Grundlagenforscher den Sprung aus dem Labor in die klinische Forschung schaffen und die klinische Forschung unabhängig sein darf, ist echter Fortschritt möglich.

 

(Dieser Beitrag erschien 2011 leicht verändert im Patientenmagazin Pso Aktuell)

 

Literatur:

Angell M. The Truth About the Drug Companies: How They Deceive Us and What to Do About It. Random House 2005.

Bekelman JE  et al. Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research: a systematic review. JAMA 2003, 289: 454–65. Review 

Fisk NM, Atun R. Market failure and the poverty of new drugs in maternal health. PLoS Med 2008, 5: e22.

Gagnon MA, Lexchin J. The cost of pushing pills: a new estimate of pharmaceutical promotion expenditures in the United States. PLoS Med 2008, 5: e1.

IQWIG: Antidepressiva: Nutzen von Reboxetin ist nicht belegt. Pressemeldung 24.11.2009. Kurzfassung des Abschlussberichts: http://www.iqwig.de/download/A05-20C_Kurzfassung_Abschlussbericht_Bupropion_Mirtazapin_und_Reboxetin_bei_Depressionen.pdf

Lexchin J et al. Pharmaceutical industry sponsorship and research outcome and quality: systematic review. BMJ 2003, 326: 1167–70. Review

Peppercorn J et al. Association between pharmaceutical involvement and outcomes in breast cancer clinical trials. Cancer 2007, 109: 1239–46.

Ramsey S, Scoggins J. Commentary: practicing on the tip of an information iceberg? Evidence of underpublication of registered clinical trials in oncology. Oncologist 2008, 13: 925–9.

Turner E H. Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 2008, 358: 252–60.

 

 

 

 

 

 

Industrieinteressen beeinflussen Forschung.
Zu viele Studien landen im Papierkorb.
Verzerrte Forschung produziert überflüssige oder schädliche Medikamente.
IQWIG fordert Zugang zu allen Studien.
Unbestechlich? Viele halten sich dafür.
Die neue Zielgruppe der Industrie: Patienten.
Menü