Wechselwirkungen zwischen Trauma und Genen bieten einen neuen Erklärungsansatz für das Verständnis des Suizids.
"Liebster, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde. Ich glaube, dass wir eine solche furchtbare Zeit nicht noch einmal durchstehen können. Und diesmal werde ich nicht wieder gesund werden." So beginnt Virginia Woolf ihren Abschiedsbrief. Kurz danach ertränkt sie sich, mit Steinen in den Taschen, im südenglischen Fluss Ouse. Warum bringen sich Menschen um? Die oberflächliche Antwort lautet: aus Verzweiflung. Eine differenzierte Antwort führt auf die Spur von Umwelt und Genen – und ihrer komplexen Wechselwirkung.
Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen durchgängig, dass Gene eine bedeutende Rolle für das Suizidrisiko spielen. Eine soeben erschienene Untersuchung des Karolinska-Instituts in Schweden an elf Millionen Menschen ergab, dass Kinder von Suizidopfern ein doppelt so hohes Risiko haben, Selbstmord zu begehen, Geschwister ein dreimal und eineiige Zwillingsgeschwister ein 15-mal so hohes. Kommt ein adoptiertes Kind in eine von Selbstmord betroffene Familie, steigt sein Risiko dagegen nur geringfügig. „Wir haben eine ganze Reihe von Genen gefunden, die für das Verständnis des Suizids wichtig sind“, erklärt Prof. Danuta Wasserman vom Karolinska-Institut, Suizidforscherin und designierte Präsidentin der europäischen Gesellschaft für Psychiatrie. Die meisten in Frage kommenden Gene beeinflussen die Stressverarbeitung, regulieren wichtige Hirnbotenstoffe wie Serotonin, GABA und Glutamat oder – und das zeigen neuere Arbeiten – sind beteiligt am Nervenwachstum. "Es gibt kein Selbstmordgen, aber es gibt ein komplexes und miteinander interagierendes Gen-Netzwerk, welches das Risiko für einen Selbstmord anhebt", betont Danuta Wasserman.
Die Größenordnung verdeutlicht eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München mit 2.000 Menschen, die unter Depressionen litten. So erhöhte das Zusammenkommen von drei kleinen Variationen in einem Gen, welches das Nervenwachstum mitsteuert (NTRK2), das Risiko für einen Selbstmordversuch um das Vier- bis Fünffache. "Auch gesunde Menschen tragen die Variation in sich, aber wenn es nicht zu einem belastenden Ereignis wie etwa einer Depression kommt, bleibt das Risiko ohne Folgen", erklärt Elisabeth Binder, Ko-Autorin der Studie.
Weltweit sterben rund eine Million Menschen durch Suizid. In fast allen entwickelten Ländern sind Selbstmorde häufiger als tödliche Verkehrsunfälle und belegen einen Platz unter den Top Ten der wichtigsten Todesursachen. Quer durch Europa zieht sich ein Nordost-Südwest-Gefälle. Litauen, Estland und Finnland beklagen die höchsten; Italien, Spanien und Griechenland die niedrigsten Selbstmordraten. Schweiz, Österreich und Deutschland liegen mit jährlich jeweils 15, 13 und 9 Selbstmorden pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Zum Vergleich: An Diabetes sterben 12 von 100.000 Menschen.
Ob und wie ein Gen zur Ausprägung kommt und unser Verhalten beeinflusst, wird durch die Umwelt mitgesteuert. Was passiert, wenn bestimmte Lebensereignisse – wie etwa Trauma und Stress – auf eine bestimmte genetische Veranlagung stoßen? Wie verändert eine genetische Veranlagung die Wahrnehmung eines einschneidenden Lebensereignisses?
Bei der Suche nach Antworten hilft die Epigenetik. Das Epigenom ist die chemische Struktur, welche die Gesamtheit der Gene umgibt. Umwelteinflüsse – Nahrung, Rauchen, Stress – verändern das Epigenom, beispielsweise durch Anlagerung von Methylgruppen. Diese Variationen sorgen dafür, dass bestimmt Gene an oder abgeschaltet werden. "Es ist ein Mechanismus, der dem Organismus erlaubt, sich flexibel an verschiedene Umwelten anzupassen", erklärt Prof. Gustavo Turecki vom Zentrum für Selbstmordstudien an der McGill Universität in Montreal, Kanada. Immer mehr Studien zeigen, dass Ereignisse in der Kindheit, etwa sexueller Missbrauch, über epigenetische Veränderungen Gene beeinflussen, die sich auf das Verhalten – auch das suizidale Verhalten – auswirken.
Ein Gen, das laut früherer Studien das Selbstmordrisiko beeinflusst, kodiert für den "vom Gehirn stammenden neurotrophen Faktor", kurz BDNF. Eine Untersuchung, die vor zwei Jahren für Aufmerksamkeit sorgte, stammt von Tania Roth und Kollegen von der Universität Alabama, USA. Das Forscherteam machte schwangeren Ratten das Leben schwer. Es stellte den Tieren nur unzureichendes Nestmaterial zur Verfügung und verpflanzte die Nager in eine ungewohnte Umgebung. Die so gestressten Rattenmütter vernachlässigten ihren Nachwuchs. Sie leckten ihre Babys seltener und säugten nur unregelmäßig. Tatsächlich war das BDNF-Gen bei diesen Rattenkindern weniger aktiv als in einer Vergleichsgruppe, die unter besseren Bedingungen aufwuchsen. Die gedrosselte Genaktivität ging einher mit einer erhöhten Methylierung des BDNF-Gens. Gaben die Forscher die Nachkommen der Stress-Mütter direkt nach der Geburt in die Obhut von entspannten Müttern, fielen die Methylierungen weniger dramatisch aus.
An dieser Stelle stehen Suizidforscher in einer Sackgasse. Zwar gibt es Ratten und Mäuse, die unter Alzheimer, Angst, Alkoholismus oder Depressionen leiden, aber es existiert kein Tiermodell für Selbstmord. Im Tierreich scheint – bis auf einige umstrittene Ausnahmen – nur der Mensch Selbstmord zu begehen. Statt im Tiermodell fahnden die Forscher daher im Gehirn von Selbstmördern nach biologischen Korrelaten des Suizids.
Gustavo Turecki und Kollegen untersuchten den epigenetischen Status verschiedener Gene im Hippocampus von Suizidopfern, einem Hirngebiet, das an der Gedächtnisbildung beteiligt ist. Gleichzeitig führten die Forscher eine psychologische Autopsie durch. Dazu befragten sie Vertraute, Eltern, Lehrer der Verstorbenen nach den Hintergründen der Tat und machten sich dabei vor allem auf die Suche nach Erfahrungen von Gewalt, sexuellem Missbrauch und schwerer Vernachlässigung in der Kindheit der Verstorbenen. "Rund 30 Prozent der Selbstmörder sind in der Kindheit traumatisiert worden. In der Allgemeinbevölkerung sind es zehn Prozent", berichtet Gustavo Turecki.
Dem Forscherteam standen zwölf Gehirne von Selbstmordopfern mit und ohne Missbrauchserfahrungen zur Verfügung. Als Kontrolle dienten zwölf Gehirne von Verstorbenen, die ebenfalls plötzlich, aber nicht durch Selbstmord umgekommen waren. Ihren Blick richteten die Wissenschaftler auf epigenetische Veränderungen an einem Gen, NR3CI, das die Aktivität eines Stresshormonrezeptors reguliert. Nur in Selbstmordopfern mit traumatischer Kindheit entdeckten die Forscher eine übermäßige Methylierung an bestimmten Orten dieses Gens. Damit hatten Wissenschaftler erstmals beim Menschen einen Hinweis darauf gefunden, dass Erfahrungen mittels epigenetischer Prozesse Gene im Gehirn steuern.
Die Formel genetische Anfälligkeit plus viel Stress gleich erhöhtes Selbstmordrisiko geht nicht immer auf. Manchmal reicht schon wenig Stress, um seinem Leben ein Ende bereiten zu wollen. Danuta Wasserman analysierte spezielle Genschnipsel, so genannte SNPs, in Familien mit Söhnen, die versucht hatten sich umzubringen. Bestimmte SNP-Variationen im CRHR1-Gen waren verbunden mit einer erhöhten Gefahr für einen Selbstmordversuch bei Menschen, die in ihrem Leben nur wenig Stress erfahren hatten. "Das heißt, diese Menschen empfinden aufgrund ihrer genetischen Anfälligkeit geringen als starken Stress", erklärt Danuta Wasserman. Wer diese genetischen Variationen mitbringt, so Wasserman, könnte etwa davon profitieren, bereits in jungen Jahren Methoden für bessere Stressbewältigung zu erlernen.
Könnten biologische Faktoren, die Selbstmord oder psychische Erkrankungen begünstigen, auch eine gute Seite haben? "Genau genommen, gibt es keine Gene, die das Suizidrisiko erhöhen", führt Gustavo Turecki aus, "sondern Gene, die an bestimmten Verhaltensweisen beteiligt sind, die wiederum die Gefahr für einen Selbstmord vergrößern." Eine dieser Verhaltensweisen, das belegt eine Reihe von Studien, ist Impulsivität. "Impulsiv zu sein, ist von großem Vorteil, wenn man in einem Job arbeitet, wo schnelles Handeln gefragt ist", erklärt Turecki. Wer depressiv ist und an Selbstmord denkt – was im Verlauf der Erkrankung bei fast allen Betroffenen vorkommt –, profitiert nicht von Impulsivität.
Es gibt keine guten und schlechten Gene. Es gibt genetische Konstellationen, die unter manchen Bedingungen förderlich, unter anderen schädlich sind. So fand Shelley Taylor vom Social Neuroscience Lab der Universität Kalifornien, dass eine Genvariante, das kurze Allel des Serotonintransportergens 5-HTTLPR, das Risiko für eine Depression erhöht, wenn die Lebensumstände in der frühen Kindheit problematisch waren. Unter förderlichen Umweltbedingungen geht das kurze Allel jedoch mit weniger Depressionen einher. Der Entwicklungspsychologe Jay Belsky von der Birbeck Universität in London spricht daher anstelle von Vulnerabilitätsgenen lieber von Plastizitätsgenen. Träger der Plastizitätsgene reagieren stärker auf die Umwelt als andere.
Können Erkenntnisse über die Genetik und Epigenetik des Selbstmords, Menschen vor einem Selbstmord zu bewahren? "Die Forschung auf dem Gebiet ist noch am Anfang. Niemand sollte auf raffinierte epigenetische Instrumente warten. Aber indem wir die neuen Erkenntnisse mit unserer klinischen Erfahrung zusammenbringen, können wir bereits jetzt eine ganze Menge für die Prävention tun", sagt Danuta Wasserman.
Suizidforscher sind sich einig: Die bislang beste Prävention besteht darin, psychische Erkrankungen von ihrem Stigma zu befreien. "Eine psychische Erkrankung ist eine Krankheit wie Diabetes oder Herzinfarkt. Sie wird – wie andere Krankheiten auch – durch das Wechselspiel von Umwelt und Genen beeinflusst, und sie ist behandelbar", erklärt Danuta Wasserman. Ist die Depression verschwunden, verflüchtigt sich auch der Drang, sein Leben zu beenden. "Heute ist der Jahrestag meines Selbstmordversuchs", schreibt sassyg1rl, eine Frau um die 40, in einem Online-Forum. "Ich bin so glücklich am Leben zu sein."
Dieser Beitrag erschien leicht gekürzt und verändert am 25.8.2011 in der Neuen Zürcher Zeitung.