Empathie ist nicht selbstverständlich. Psychologen und Neuroforscher ergründen, wie und warum wir uns einfühlen.
Ein Ehepaar um die 30 sitzt in einem Psychologie-Labor. Es hat sich freiwillig auf eine Zeitungsanzeige gemeldet und bereit erklärt, vor laufender Kamera ein für die Beziehung brenzliges Thema zu besprechen. «Hegen wir eigentlich noch Gefühle der Liebe füreinander?», so ihr selbstgewähltes Thema.
Das Paar ist eines von knapp 100 Paaren, die an einem psychologischen Experiment teilnehmen, dass der Empathie-Forscher William Ickes von der University of Texas in Arlington entworfen hat. Ihm geht es dabei nicht um den Inhalt der Diskussion. Vielmehr erforscht der Sozialpsychologe seit den 1980ern, wie gut jemand die unausgesprochenen Gedanken und Gefühle des anderen erspüren kann. Daher bittet er die Partner nach der Diskussion, in getrennten Zimmern ehrlich Auskunft darüber zu geben, was sie in der Situation wirklich gefühlt und gedacht haben.
Im nächsten Schritt sollen die Probanden dann die Gefühle und Gedanken ihres Gegenübers erraten, indem sie sich die Videoaufzeichnung noch einmal Schritt für Schritt anschauen. «Mann, ist der sexy», «Was für eine Fanatikerin», «Wann ist das hier endlich zu Ende?» waren einige der zu erschließenden Gefühle. Ein Forscherteam vergleicht schließlich die geratenen und tatsächlichen Gefühle und ermittelt so eine Trefferquote. Ickes nennt dies die Empathische Genauigkeit.
Was in den Köpfen anderer vorgeht, bleibt uns erstaunlich verschlossen.
Wenn man eine Person nicht kenne, liege man nur in fünf Prozent der Fälle richtig, erklärt der Forscher. Nach dem ersten Treffen schnelle dieser Wert aber auf 20 Prozent empor und halte sich dann bei engen Freunden und Partnern zwischen 20 und 35 Prozent. Doch diese und andere Untersuchungen von Ickes und Kollegen zeigen vor allem Eines: Wie treffsicher wir die Gefühle anderer einschätzen, ist keine festgelegte Eigenschaft wie unsere Augenfarbe. Unsere empathischen Fähigkeiten hängen vielmehr von der Situation und unserer Motivation ab.
Dies bestätigte auch das oben beschriebene Experiment mit Ehepartnern, das Ickes und Kollegen Anfang des Jahres im «Personality and Social Psychology Bulletin» veröffentlichten. Die Ergebnisse ergaben, dass beispielsweise auch der Bindungsstil eines Menschen seine empathischen Fähigkeiten beeinflusst. Versuchsteilnehmer, die sich sicher und gebunden fühlten, schraubten bei dem brenzligen Beziehungsthema ihre Empathie zum Schutz herunter. Ein sinnvoller Mechanismus, der die Beziehung stabilisiere, sagt Ickes. Unsicher gebundene Menschen blieben dagegen auch bei heiklen Themen hoch empathisch und gefährdeten damit ihre Seelenruhe und die Beziehung noch zusätzlich. Empathie sei für eine Beziehung wie Geld, meint Ickes. Es sollte nicht zu wenig werden, aber mehr davon mache die Partnerschaft auch unbedingt besser – womöglich eher schlechter.
William Ickes beschäftigt sich mit einem Teil der Empathie, den Theoretiker als kognitive Empathie beschreiben. Um die Gefühle und Gedanken des anderen zu verstehen, muss ich mich in ihn hineinversetzen. Das erfordert eine anspruchsvolle gedankliche (kognitive) Leistung. Dem gegenüber steht die affektive Empathie. Sie gilt als die direktere Variante der Empathie. Dabei fühlen wir mit, was der Andere fühlt. Wir spüren etwa seinen Schmerz indem wir selbst zusammenzucken, fangen an zu gähnen, wenn der andere gähnt.
Doch ob sich Kognition und Affektion in diesem Bereich wirklich trennen lassen, wird immer fraglicher. Selbst spontan erscheinende körperliche Empathie-Reaktionen werden von höheren mentalen Prozessen beeinflusst, wie einige Studien zeigen. So senken etwa Vorurteile ein empathisches Muskelzucken der Hand, wenn wir beobachten, dass ein anderer Mensch gestochen wird.
Ist das Mitfühlen nun eine Sache der Kognition, der Emotion oder des Verhaltens? «Ich denke, alles ist Empathie», sagt Mark Davis. Der Psychologe lehrt am Eckerd College in Florida und entwickelte 1980 den Interpersonellen Reaktivitätsindex, einen Fragebogen, mit dem auch heute noch die Empathie gemessen wird. Der Test fragt die Zustimmung ab zu Aussagen wie beispielsweise: «Ich fühle mich oft sehr berührt von den Sachen, die um mich herum geschehen».
Als Sozialpsychologen Ende der 1970er anfingen, sich mit dem Thema Empathie zu beschäftigen, hätten sie sich nicht träumen lassen, dass sie ihr Interesse in Kürze mit Neurobiologen teilen würden. «Eine der grössten Überraschungen meiner Karriere war, als ich plötzlich Post von Hirnforschern bekam, die wissen wollten, wie man meinen Interpersonellen Reaktivitätsindex anwendet», erzählt Davis. Dass Forscher Empathie inzwischen auch im Gehirn verorten, hängt unter anderem mit einer Entdeckung aus dem Jahr 1990 zusammen.
Giacomo Rizzolatti und sein Team von der Universität Parma fanden im Gehirn von Makaken Zellen, die nicht nur feuerten, wenn der Affe eine Bewegung ausführte, sondern auch, wenn er diese Bewegung bei einem anderen Affen oder Menschen beobachtete. Weitere Forschung führte zu dem Konzept der Spiegelneurone: Bestimmte Zellen und Schaltkreise im Gehirn, so die Theorie, spiegeln mit ihrer Aktivität die Handlungen und Empfindungen anderer Individuen wider. Im letzten Jahr wiesen Amerikaner erstmals auch beim Menschen die Existenz einzelner Spiegelneurone nach. Dazu registrierten sie die Aktivität einzelner Nervenzellen bei 21 Epilepsiepatienten, die sich aufgrund ihrer Erkrankung einer Operation unterziehen mussten.
Meine oder deine Empfindung? Das Gehirn macht dabei keinen so großen Unterschied.
Fasziniert von den neuen Entdeckungen, schloss sich Christian Keysers vor elf Jahren dem Team um Giacomo Rizzolatti an. Inzwischen leitet der 38-Jährige Psychologe und Biologe das Social Brain Lab in Amsterdam. Er und seine Kollegin, die 42-jährige Psychologin Tania Singer vom Max-Planck-Institut in Leipzig, sind Vertreter einer jungen Generation von Empathie-Forschern. Sie lassen sich von der Komplexität des Themas nicht abschrecken und nehmen auch grosse Fragen in Angriff. Dafür verknüpfen sie Psychologie und Neurowissenschaften.
2004 veröffentlichte Tania Singer eine für die neuropsychologische Empathie-Forschung wegweisende Studie im Magazin «Science». Ihre Frage lautete: Fühlen wir den Schmerz anderer wie unseren eigenen? Singer und ihr Team maßen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) die Gehirnaktivität von Frauen, deren Männer einen Schmerzreiz erhielten. Sie fanden, dass im Gehirn der Probandinnen die gleichen Areale aktiv wurden, wie wenn ihnen der Schmerz selbst zugefügt wurde. Je empathischer die Teilnehmerinnen auf der von Davis entwickelten Empathie-Skala abschnitten, desto aktiver waren die Hirnareale für das Mitfühlen des Schmerzes.
Weitere Studien ergaben, dass sich das neuronale Mitschwingen nicht nur auf Partner beschränkt, sondern ebenso bei Fremden auftritt. Zudem spiegeln sich nicht nur Handlungen und Schmerzen, sondern auch Berührungen und Gefühle, die eine Person spürt, im Gehirn einer anderen wider. «Das ist für mich eine der aufregendsten Entdeckungen der letzten Jahre», sagt der Amsterdamer Forscher Keysers. Es scheint, als seien unsere Gehirne unsichtbar miteinander verdrahtet. Geteilte Schaltkreise («shared circuits») nennt er dieses Phänomen.
Ebenso wie die psychologischen weisen auch die neurowissenschaftlichen Untersuchungen darauf hin, dass wir unser Empathie-Niveau der Situation und den Menschen anpassen. So entdeckte Singer, dass in unserem Gehirn die empathische Aktivität heruntergedrosselt wird, wenn wir andere Menschen als unfair empfinden oder sie einer konkurrierenden Gruppe angehören. Im letzten Jahr testete sie Fussballfans, die beobachteten, wie entweder einem Mitglied des eigenen oder des Konkurrenz-Clubs im Experiment ein leichter Stromschlag zugefügt wurde. Wer bereit war, einen Teil der Intensität des Stromschlags selber zu ertragen, konnte den Schmerz des Gegenübers senken.
Empathie? Sicher, aber nur für Gleichgesinnte.
Den Widerstreit der Impulse spiegelte die per fMRI gemessene Gehirnaktivität. War die vordere Inselrinde aktiv, nahmen die Teilnehmer Schmerzen ihres Gegenübers auf sich. Feuerte dagegen das Belohnungszentrum, sahen sie den Probanden lieber leiden. Letzteres war häufiger der Fall, wenn es sich um einen Fan der gegnerischen Mannschaft handelte. Es ist jedoch nicht ausschliesslich die Gruppenzugehörigkeit, die den Grad unserer Empathie bestimmt, sondern – darauf weisen neue Arbeiten hin – auch die unbewussten Vorurteile, die wir gegenüber anderen hegen.
Allessio Avenanti deckte auf, dass empathische Körperreaktionen – das Stillstellen der Hand, wenn wir sehen, dass jemand anderem Schmerz zugefügt wird – stärker ausfallen, wenn wir Menschen der eigenen Hautfarbe beobachten. Den voreiligen Schluss, man neige eben automatisch zu mehr Mitgefühl bei Menschen der eigenen Hautfarben-Gruppe, schloss Avenanti mit einer weiteren Versuchsbedingungen aus. Beobachteten die Probanden Menschen mit violetter Hautfarbe, lag das Empathie-Niveau ebenso hoch wie bei Menschen der eigenen Hautfarbe. Ein Vorteil der neuronalen Empathie-Messung ist, dass man sich nicht mehr ausschliesslich auf die Angaben der Versuchsteilnehmer verlassen muss. Jede Art der Selbstauskunft habe Grenzen, wenn es dabei um sozial Erwünschtes gehe, sagt Davis.
Wir alle würden uns wahrscheinlich lieber etwas empathischer darstellen, als wir sind. Das scheint selbst für Schwerverbrecher zu gelten. Keysers beschreibt in seinem bald auf Deutsch erscheinenden Buch «The Empathic Brain» eine laufende fMRI-Studie aus seinem Institut. Seine Frage lautet: Sind Psychopathen vollkommen unempathisch? Die ersten Ergebnisse zeigen ein deutlich geringeres empathisches Mitschwingen bei Verbrechern mit einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung. Fordert man die Probanden jedoch auf, sich ganz bewusst in den anderen hineinzuversetzen, finden die Forscher keinen Unterschied mehr in der Gehirnaktivität zu einer Vergleichsgruppe. Es scheint, als ob die Schwerverbrecher Empathie besitzen, sie jedoch nicht spontan anwenden.
Wie viel Empathie steckt in uns? Wie viel können wir sie über unser alltägliches Mass herunter oder herauf regulieren? Selbst bei Menschen mit stark eingeschränkter Empathie, etwa im Fall von Autismus, lässt sich das Verständnis für Gefühle ein Stück weit erlernen. «Empathie ist eine zu wenig genutzte Ressource», schreibt der britische Psychologe Simon Baron-Cohen in seinem gerade erschienen Buch «Zero Degrees of Empathy». Er plädiert dafür, Empathie gezielt zu schulen. Wie das in der Praxis aussehen könnte, erforschte Tania Singer kürzlich in einem Experiment. Versuchspersonen erhielten eine Schulung in der buddhistischen Meditationstechnik «Metta». Die Meditierenden sollten freundliche Gefühle gegenüber sich selbst, ihren Freunden und Feinden entwickeln. Tatsächlich zeigte die Trainingsgruppe einige Tage später im Test deutlich mehr Mitgefühl als eine untrainierte Vergleichsgruppe. Falls sich im Alltag von Institutionen das Mitgefühlstraining etablieren liesse, so die Wissenschafterin, könne es eine bedeutsame gesellschaftliche Wirkung entfalten.
Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung (Oktober 2011)