Wege aus der Schmerzhölle

Chronische Schmerzen gehören mit zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Neue Therapieansätze geben immer mehr Betroffenen Hoffnung.

An zwei Momente in ihrem Leben kann sich Birgitta Gibson besonders gut erinnern. Der eine war, „am tiefsten Punkt der Senke“, wie sie sagt. Der andere „wie Ostern und Weihnachten zusammen“. Nach einer Operation an der Bandscheibe vor 26 Jahren kommt es bei der damals 35-jährigen Lehrerin zu Komplikationen. Birgitta Gibson verbringt mit kurzen Unterbrechungen fast ein ganzes Jahr im Krankenhaus. „Ich war Schmerz“, erinnert sich die heute 61-Jährige. Trotz Besuchen bei Ärzten, Orthopäden, Physiotherapeuten und Heilpraktikern lassen die Schmerzen nicht nach. Sie führen ein Eingenleben.

  Gehirn Radiergummi

Der Schmerz gräbt sich ins Gehirn und lässt sich nicht mehr ausradieren. Oder doch?

 

„Oft sind mir nur die Tränen gelaufen“, erzählt Birgitta Gibson. Die Umwelt reagiert mit Unverständnis. „Geht es Ihnen schon wieder besser? Wann gehen Sie zurück in die Schule?“, fragen eines Tages die Nachbarn, als sich Birgitta Gibson mühsam vom Taxi zur Haustür schleppt. Und legen genau den Finger auf die Wunde. Nach einer zweiten Operation erhält Birgitta Gibson, Lehrerin mit Leib und Seele, noch in der Klinik ihre Frühpensionierung. „Ich bin ins Haus geschlichen, habe mich in die Ecke gestellt und geheult“.

Verzweifelte Odyssee

Was Birgitta Gibson im Extrem durchgemacht hat, durchleben die meisten Schmerzpatienten auf die eine oder andere Art ähnlich. Setzen die Schmerzen ein, setzt auch eine Odyssee von Arzt zu Arzt ein. In der Regel hat ein chronischer Schmerzpatienten bis zu zehn Ärzte gesehen, bevor er Hilfe findet. Das liegt unter anderem daran, dass Mediziner im Studium kaum etwas über Schmerztherapie erfahren und auch daran, dass es zu wenig speziell ausgebildete Schmerztherapeuten gibt. „In Deutschland sind wir in der Schmerzforschung führend. In der Versorgung von Schmerzpatienten leider nicht“, erklärt Prof. Michael Strumpf, Leiter der Schmerz-Tagesklinik und -Ambulanz an der Universitätsmedizin Göttingen. Vor rund zehn Jahren haben neue Erkenntnisse das Wissen über die Entstehung von Schmerzen revolutioniert und damit auch die Behandlung von chronischen Schmerzpatienten grundlegend verändert.


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Info Kompakt

Wie entstehen Schmerzen?

Akute Schmerzen

In unserer Haut und in unserem Körperinneren haben wir spezielle Schmerzrezeptoren, so genannte Nozizeptoren. Sie werden aktiviert, wenn unser Gewebe geschädigt wird; beispielsweise, wenn wir uns das Knie blutig schlagen oder aus Versehen auf eine heiße Herdplatte langen. Der Schmerzreiz wird unter anderem in das Rückenmark weitergeleitet und löst einen Fluchtreflex aus. Der akute Schmerz hat also eine Warn- und Schutzfunktion. Menschen, die aufgrund eines seltenen genetischen Defekts keine Schmerzen empfinden, leiden besonders häufig unter Knochenbrüchen und Verbrennungen.

Chronische Schmerzen

Wiederholt sich ein Schmerzreiz immer wieder, wird etwa immer wieder die gleiche Stelle am Knie verwundet, setzt ein Lernprozess ein. Unser Zentralnervensystem verknüpft den Ort Knie mit der Empfindung Schmerz. Nun schmerzt das Knie auch dann, wenn es gar nicht angestoßen wurde. Diesen „Schmerz ohne Auslöser“ können Wissenschaftler über die Messung von Nervenströmen nachweisen. Er ist also nicht  eingebildet, sondern ganz real. Mit Gehirnscans lässt sich zeigen, wie sich entsprechende Aktivitätsmuster im Gehirn verändern. Der Schmerz hat sich im Gehirn eine Gedächtnisspur gegraben.  

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Hilfe beim Schmerzexperten

Nach vier Jahren mit andauernden Schmerzen trifft Birgitta Gibson 1987 erstmals auf einen der damals noch seltenen speziell ausgebildeten Schmerztherapeuten. „Nach dieser langen Geschichte werde ich ihnen ihre Schmerzen nicht wegzaubern können“, sagt der Frankfurter Arzt, „aber wir können gemeinsam dahin kommen, dass sie mit diesen Schmerzen leben können.“ Er setzt Birgitta Gibson zum ersten Mal eine Lokalanästhesie. Erstmals seit vier Jahren ist die ehemalige Lehrerin für einige Zeit schmerzfrei. Sie spaziert über die Frankfurter Hauptwache und setzt sich ins Café Hauptwache, bestellt ihren ersten schmerzfreien Kaffee. „Das war Ostern und Weihnachten zusammen. Von da an ging es bergauf“, erinnert sie sich.

Die stille Epidemie

Mindestens jeder Zehnte in Deutschland leidet an chronischen Schmerzen. Bei ein bis zwei Millionen Menschen hat sich der Schmerz verselbstständigt und gilt als eingenständige Schmerzkrankheit. In Deutschland gibt es zurzeit rund 500 Einrichtungen mit speziell ausgebildete Schmerztherapeuten. Viel zu wenig, klagt die Deutsche Schmerzliga, eine Organisation die sich für die Belange von Schmerzpatienten einsetzt. Gute Anlaufstellen sind auch Schmerzambulanzen und Schmerzkliniken. In fast alle größeren Städten gibt es Selbsthilfegruppen, die bei der Bewältigung der Krankheit helfen. „Der erste Ansprechpartner ist der Hausarzt“, betont Prof. Michael Strumpf. „Wenn der Schmerz aber länger als sechs Wochen unverändert anhält, sollte ein Schmerzexperte hinzugezogen werden.“ Je früher die Schmerzen unterbrochen werden, umso besser kann eine gefährliche Chronifizierung verhindert werden.

Chronischen Schmerzen vorbeugen

Chronische Schmerzen können sich beispielsweise nach großen Operationen entwickeln. Um das zu verhindern, sorgen die Narkoseärzte an der Universitätsmedizin Göttingen dafür, dass während und nach der Operation erst gar kein Schmerzsignal im Gehirn ankommt. „Dies ist möglich, indem wir mit regionaler Betäubung oder Medikamenten die Nervenleitung vorübergehend unterbrechen“, berichtet Prof. Strumpf. Das Gehirn wird so hinters Licht geführt: Wo keine Schmerzsignale, da kein Schmerzgedächtnis. Daher ist es auch wichtig, bei Menschen mit akuten Schmerzen – beispielsweise neu aufgetretenen Rückenschmerzen – schnell dafür zu sorgen, dass der Schmerz unterbrochen wird.

„Abwarten und schonen ist genau der falsche Weg“, erklärt Dr. Horst Baumann, Allgemeinmediziner aus Graben-Neudorf bei Karlsruhe. „Sie müssen beim Schmerz eine Zäsur machen, sodass sich der Patient wieder durchbewegen kann“. Bei den meisten Patienten mit akuten Schmerzen verschwinden die Beschwerden nach wenigen Wochen. Haben die Schmerzen jedoch erstmal eine Spur ins Gedächtnis gegraben, ist ein Verlernen nahezu unmöglich. „Eine Löschung des Schmerzgedächtnisses ist noch nicht möglich. Aber wir haben inzwischen gute Therapien, die den chronischen Schmerz deutlich lindern können“, erklärt Prof. Michael Strumpf.

Multimodale Therapie

Acht Frauen und ein Mann stehen im Kreis. „Wir ziehen die Wolken nach links“, sagt die Lehrerin und bewegt ihre Arme wie in Zeitlupe von einer Körperseite zur anderen. Die Schüler machen es ihr nach. Neun Uhr früh in der Turnhalle des Uniklinikums München. Christine Irnich leitet eine Gruppe von Schmerzpatientinnen in der chinesischen Bewegungslehre Qigong an. Der Kurs ist Teil des Münchner Naturheilkundlichen Schmerzintensivprogramms. „Eine einzelne Therapie alleine, das haben wissenschaftliche Studien gezeigt, hilft nicht bei chronischen Schmerzen“, erklärt Privatdozent Dr. Dominik Irnich. Er leitet die Interdisziplinären Schmerzambulanz im Münchner Universitätsklinikum und hat das Schmerzprogramm entwickelt. Als effektive Schmerztherapie gilt heute eine multimodale Behandlung. Das bedeutet, dass der Patient ein Programm aus verschiedenen sinnvoll miteinander verknüpften Therapieformen erhält. Dazu gehört neben der Betreuung durch einen Mediziner, auch die Einbeziehung von Physiotherapeuten, Psychologen und Entspannungstrainern.

Erfolg erwiesen

Inzwischen haben sich in Deutschland eine Reihe von multimodalen Schmerzprogrammen etabliert. Sie werden entweder von niedergelassenen Ärzten, von Kliniken oder Klinikambulanzen durchgeführt. Ihnen allen ist gemein, dass sie Schmerz als ein komplexes Geschehen betrachten, das körperliche, seelische und soziale Aspekte einschließt. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen den Erfolg der Programme. „Manche Patienten, die zu uns kommen, sind nachher andere Menschen“, berichtet Dr. Irnich. Eine Studie seiner Arbeitsgruppe zeigt, dass Patienten auch ein Jahr nach der Teilnahme am vierwöchigen Münchner Schmerzprogramm noch von der Behandlung profitierten. Sie haben deutlich weniger Schmerzen und sind arbeitsfähiger als zu Beginn des Programms.

Besonders nachhaltige Ergebnisse lieferte eine Studie mit chronischen Schmerzpatienten, die an einem multimodalen Therapieprogramm der Schmerzklinik Kiel teilnahmen (siehe auch Interview). Im Vergleich zu anderen nicht-multimodalen Therapiekonzepten wurden die Schmerzen anhaltend gelindert und die Arbeitsfähigkeit deutlicher gesteigert. Zwei Jahre nach der Behandlung hatte sich die Schmerzintensität auf einer Skala von null bis zehn von durchschnittlich 7,7 auf 4,2 verringert sowie die Aktivität und die Lebensqualität kontinuierlich verbessert.

Sonia Schäfer*, Mutter von zwei Kindern und Leiterin einer Marketingabteilung verbrachte ihre letzten Osterferien in der Kieler Schmerzklinik. „Es war genial. Ich habe dort eine Rundum-Betreuung erhalten“, erinnert sich die Stuttgarterin, die unter Migräne leidet. Dazu gehörten Gespräche mit Verhaltenstherapeuten, das Erlernen von Entspannungsverfahren, eine differenzierte Überprüfung der medikamentösen Behandlung und der Austausch mit anderen Betroffenen. „Der Aufenthalt hat mir klar gemacht, dass ich nicht zulassen will, dass die Migräne mein Leben bestimmt“, betont Sonia Schäfer.


Frau mit Migräne

Störrfeuer im Kopf. Migräne lässt sich mit einer multimodalen Therapie gut behandeln.


Hilfe in der Gruppe

Gerade der Austausch in der Gruppe, davon sind Experten überzeugt, gibt den Patienten Kraft und neuen Lebensmut. Wenn sich Betroffene regelmäßig in der Gruppe treffen, dann „hat die Gruppe an sich schon eine heilsame Wirkung“, sagt Dr. Dominik Irnich. Diese Erfahrung hat auch Birgitta Gibson gemacht. Mithilfe ihres Schmerztherapeuten erhält sie 1987 ein multimodales Therapieprogramm: wirksame Schmerzmittel, Akupunktur, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson sowie Physiotherapie im Schlingentisch nach vorhergehender Lokalästhesie. „Die Schmerzen wurden unterschwelliger“, berichtet Birgitta Gibson. Sie schöpft neue Kraft und gibt ihrem Leben eine neue Richtung. 1989 gründet sie in Frankfurt eine Schmerzselbsthilfegruppe, ein Jahr später ist sie Mitbegründerin der Deutschen Schmerzliga. Wenn sie von ihrer Selbsthilfegruppe spricht, spürt man den Stolz und die Verbundenheit. „Im meiner Gruppe wird jeder aufgefangen. Da kann man weinen, lachen, Wut haben“, erzählt Birgitta Gibson. Der Umgang mit der Krankheit und die Zeit in der Gruppe haben sie verändert. „Ich bringe jetzt viel mehr Aufmerksamkeit für mich selbst und für andere mit.“


* Name auf Wunsch geändert

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Buch- & Web-Tipps:

Endlich weniger Schmerzen

Ihre Schmerzen besser verstehen. Schritt für Schritt: chronische Schmerzen verlernen. Robert Reining, Anita Schweiger, Sabine Klonk (Trias-Verlag)

Weil ich mit Schmerzen leben muss

Interviews mit Schmerzpatienten: Therapiewege bei chronischen Beschwerden, Hartmut Göbel (Südwest-Verlag)

www.schmerzliga.de

Webauftritt der Deutschen Schmerzliga mit Adressen von Selbsthilfegruppen

www.schmerzklinik.de

Webauftritt der Schmerzklinik Kiel mit vielen Informationen zur modernen Schmerztherapie

 

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Migräne: Zwangspause im Gehirn


Interview mit Prof. Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel

Sie bieten in Ihrer Schmerzklinik in Kiel eine spezielle multimodale Schmerztherapie für Migräne-Patienten an. Was ist das Besondere an dem Programm?

Wir bringen das gesamte aktuelle Wissen aus den für die Schmerzbehandlung relevanten Fächern zusammen und machen es dem Patienten verfügbar. Das Konzept koordiniert zudem die bundesweite ambulante Versorgung vor Ort durch besonders qualifizierte spezialisierte regionale Schmerzzentren bis hin zur hochintensivierten stationären Therapie in einem spezialisierten überregionalen Zentrum. Es ist eine auf jeden Schmerzpatienten persönlich zugeschnittene Therapie.

Kann dadurch die Migräne vollständig geheilt werden?

Migräne ist heute sehr gut behandelbar. Die Bereitschaft, unter bestimmten Bedingungen mit Migräneattacken zu reagieren, ist jedoch eine angeborene Eigenart des Nervensystems. Mit einer gut angepassten Schmerztherapie kann der Migräne-Patient in der Regel sein Leben sehr gut meistern. Allerdings muss der Patient dabei selbst aktiv mitarbeiten. Eine Erkrankung wie Migräne wird immer auch durch äußere Auslöser angestoßen. Wenn man die Auslöser – etwa Stress und Konflikte in der Familie oder am Arbeitsplatz – nicht anpackt, kann man noch so viele Medikamente einnehmen, auf Dauer wird sich nichts verändern. Der Patient muss sein Leben ein stückweit neu strukturieren. Wir geben ihm dafür die nötigen Informationen und  Verhaltensweisen mit auf den Weg.

Marie Curie, Harald Schmidt, Katja Flint litten oder leiden unter Migräne. Gibt es besondere Persönlichkeitsmerkmale, die einen Migränepatienten auszeichnen?

Früher dachte man, Migräne-Patienten seien besonders perfektionistische Menschen. Davon geht man heute nicht mehr aus. Bekannt ist, dass das Nervensystem von Migränepatienten einen sehr hohen Energieumsatz hat. Das bringt Vor- und Nachteile. Man ist geistig sehr leistungsfähig und flink, aber eben bei Überbeanspruchung der Energieversorgung der Nervenzellen sehr empfindlich. Strömen zu viele Reize auf einmal ein, wird das eh schon hochaktive Gehirn überlastet. Es kommt zu einer Freisetzung von Botenstoffen, die wiederum Entzündungsvorgänge auslösen. Das verursacht die schlimmen Schmerzen. Sie veranlassen das Gehirn quasi zu einer Zwangspause.

Ihr Therapieansatz wurde fünf Jahre lang von externen Wissenschaftlern intensiv begleitet. Was sind die Ergebnisse?

Die Patienten profitieren nachhaltig von dem Programm. Im Vergleich zu einer nicht spezialisierten Behandlung waren unsere Patienten nach der Programmteilnahme arbeitsfähiger, zufriedener und schmerzärmer. Sämtliche Bereiche der Lebensqualität haben sich nachhaltig gebessert. Mir hat das gezeigt: Die koordinierte multimodale Therapie ist die Schmerztherapie der Zukunft.

 

erschienen 2009 im Magazin wissen & gesundheit (Springer Medizin)


Kein Rückzieher möglich. Schmerzen können zum ständigen Begleiter werden.
Foto: Fotowerk - Fotolia
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