Sie verlassen ihre Familie, verschenken ihr Geld, geben ihren Beruf auf, ihren eigenen Willen und manchmal auch ihr Leben.
Mitglieder extremer Sekten sind für Außenstehende ein Rätsel. Wie kann jemand sein Leben so sehr in die Hände einer Gruppe, eines Sektenführers legen, dass er Taten begeht, an die er früher nicht im Traum gedacht hätte?
"Jedem von uns könnte das passieren", ist darauf die beunruhigende Entgegnung von Sektenexperte Dieter Rohmann. Der Diplompsychologe betreut seit über 25 Jahren Menschen, die sich aus solchen Gruppen gelöst haben. In über 110 Interviews mit Aussteigern hat er nach einer charakteristischen psychischen Struktur gesucht, die Sektenanhängern eigen ist. Sind sie psychisch labiler, neurotischer oder in ihrer Kindheit misshandelt worden? "Nein", so Rohmanns Resümee. "Das einzige, was Menschen eint, die in eine Sekte eingestiegen sind, ist, dass sie es während einer Krise getan haben."
Nach einer Schätzung des religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes REMID sind in Deutschland rund eine Million Menschen Mitglieder von Sekten, oder – wie es im Sprachgebrauch der Experten heißt – "neuen religiösen und ideologischen Bewegungen und Psychogruppen". Neben den bekannten Gruppen wie Scientology oder den Zeugen Jehovas existiert ein unübersichtlicher Supermarkt der Religionen.
Sekten haben auch positive Wirkungen.
Sie bedienen unterschiedlichste Bedürfnisse und richten sich an Menschen jeden Alters und jeder Schulbildung. Insgesamt drängeln sich deutschlandweit circa 800 Anbieter auf dem Markt. Nur ein kleiner Teil der Sekten ist problematisch, betont eine 1998 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission. Unter Experten ist es umstritten, inwieweit die Mitgliedschaft in einer Sekte schädlich ist. Ausstiegsberater, die das Leid ehemaligen Kultmitglieder deutlich vor Augen haben, betonen die potenzielle Gefährlichkeit solcher Gruppen.
Religionswissenschaftler weisen dagegen darauf hin, dass die verschiedenen Bewegungen durchaus positive Wirkungen auf ihre Mitglieder haben können. Einig sind sich die Experten, dass Menschen, die sich zu Sekten hingezogen fühlen, keine passiven Opfer sind. "Vielmehr bringen sie eine Reihe von Bedürfnissen, Wünschen oder Lebensproblemen mit, die in diesen Gemeinschaften erfüllt und befriedigt werden sollen", schreibt die Enquete-Kommission in ihrem Abschlussbericht.
"Ich hatte mich gerade von meiner Freundin getrennt", berichtet Max, ein ehemaliges Sektenmitglied, das anonym bleiben will, "und war auf der Suche nach einer neuen Richtung in meinem Leben." Max meldet sich zu einem sechstägigen Meditationskurs an. Dort macht er eine Erfahrung, nach der er schon lange gesucht hatte. Innerhalb dieser Gruppe kann er alle seine Gefühle, seine Trauer und seine Wut zeigen.
Er gibt vor fremden Leuten seine intimsten Geheimnisse preis. Die Gruppe schreit, weint und tanzt gemeinsam. "Lasst euch gehen, findet euren Durchbruch", fordert die charismatische Kursleiterin immer wieder. Am vorletzten Tag hat Max seinen "Durchbruch". Er fühlt sich befreit, gerettet, von Kummer erlöst. "Da war nur noch Liebe. Wir lagen uns in den Armen und waren glücklich. Ich war wie auf Drogen." Erst am letzten Tag erfährt Max mehr über die Organisation, die hinter dem Meditationskurs steckt.
Es ist die Sekte "Miracle of Love" – Wunder der Liebe. In den folgenden Wochen wird sich Max an das außergewöhnliche Gefühl während des Kurses erinnern, die Kassetten der Sektenführerin Kalindi anhören, ihre Bücher lesen und sich immer weiter mit den Idealen der Bewegung beschäftigen. Sein Leben hat einen neuen Halt gefunden – vorerst.
In vielen Köpfen spukt noch eine alte Vorstellung, wie Sekten auf Menschen wirken. Dr. Hansjörg Hemminger, Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Stuttgart, nennt dies die Rotkäppchen-Theorie: Ein unschuldiger Nicht-Sektierer läuft durch den Wald und wird vom bösen Wolf, der Sekte, aufgeschnappt. "Das stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein", betont Hansjörg Hemminger. "Der Einstieg in eine solche Gruppe ist ein interaktiver Prozess. Daran ist die Person, die einsteigt, genauso beteiligt, wie die Gruppe mit ihrem spezifischen Angebot." So besitzen Sekten auch kein absolut funktionierendes "Psychomanipulationsinstrumen", mit der sie jeden gefügig machen können, der in "ihre Fänge" gerät.
Natürlich gibt es Gruppen, die so fanatisch und auf die Ausbeutung ihrer Mitglieder ausgelegt sind, das man vor ihnen warnen muss. "Dazu zählen beispielsweis", so Hemminger, "Scientology, Der Weg ins Licht von Frank Eickermann und Miracle of Love." Doch wissenschaftliche Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Sekten heilsame Wirkungen haben können. Eine Studiengruppe um Dr. Sebastian Murken von der Universität Trier fand 2004 nach einer Befragung von 71 Sektenmitgliedern, dass der Eintritt in eine neureligiöse Gemeinschaft in einer frühen Phase das Wohlbefinden deutlich verbessert.
Wer kann für mich entscheiden?
"Früher hatte ich Entscheidungsprobleme, heute habe ich eine klare Orientierung", berichtete etwa eine Studienteilnehmerin. Noch steht eine Befragung nach einer längeren Mitgliedschaft aus. Ein starker Antrieb sich nach der ersten Kontaktaufnahme mit einer Sekte immer weiter in diese Bewegung hineinzugeben, ist, so beschreibt es der Offenbacher Therapeut und Sektenexperte Werner Gross, "der Wunsch Verantwortung abzugeben". Auf der anderen Seite steht ein nach Macht strebender Kultführer, der dieses Angebot dankbar annimmt. "Es funktioniert nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip, nach Angebot und Nachfrage", so Werner Gross.
Vor rund 10 Jahren gründete die Therapeutin Marina Faber (Name geändert) gemeinsam mit einem Meditationslehrer ein spirituelles Zentrum. "Ich war zu der Zeit sehr erfolgreich in meinem Beruf, aber etwas fehlte", erinnert sich die Therapeutin. Der Meditationslehrer, ein "unglaublich faszinierender und intelligenter" Mann füllt dieses Vakuum. Er schaute, so Marina Faber "hinter die Bewusstseinsebene" und lehrte "ehrlich und aufrichtig" zu leben.
Sie entschließt sich, mit ihm gemeinsam Seminare anzubieten. In kürzester Zeit bauen sie eine florierende Seminarorganisation auf. Als sie ihre Methode auf einem Festival für Esoterik vorstellen, rollt eine Welle von Neuanmeldungen über sie hinweg. Es sind Rechtsanwälte, Ärzte und Geschäftsleute, die sich für diesen spirituellen Weg interessieren, und sie zahlen Tausende von Euro für die Kurse. Einige geben ihren Beruf auf, um den beiden spirituellen Lehrern zu folgen. Im Laufe der Zeit werden die Praktiken von Marina Fabers Kompagnon immer bizarrer.
So ernennt er beispielsweise ein Mitglied zur Reinkarnation Adolf Hitlers, dessen Schuld er in diesem Leben abtragen müsse. Wer seine übermenschliche "Aufgabe" nicht bewältigt, hat sich noch nicht weit genug entwickelt. "Die Leute sind geschwebt, doch ich durfte sie nicht erden", erinnert sich die Therapeutin. Ihre Zweifel an der Bewegung werden immer größer – und sie haben keinen Platz. Nach über vier Jahren verlässt sie das Zentrum, ihre Freunde, ihre Arbeit. Es dauert mehrere Jahre bis sie sich innerlich von diesem Teil ihrer Geschichte lösen kann und ein neues Leben aufgebaut hat.
"Wüssten die Menschen von Anfang, was sie zwölf Monate später in dem Kult erwartet, würden sie auf dem Absatz kehrt machen", ist sich Dieter Rohmann sicher. Doch die Neueinsteiger erfahren immer nur häppchenweise, wofür die Bewegung steht und was der Sektenführer von ihnen verlangt. Hinzu kommt, dass in jedem Kult die Angst vor dem Ausstieg gesät wird. "Verlässt du uns, verlässt du den wahren Weg. Dir wird etwas Furchtbares zustoßen".
So geraten die Menschen tiefer und tiefer in den Bann eines destruktiven Kults. Zweifel an der Bewegung wachsen vor allem dann, wenn die Mitglieder erkennen, dass zwischen den Glaubenssätzen und der Realität eine Lücke klafft. Sie beobachten zum Beispiel, dass der Sektenführer Friedfertigkeit predigt, aber seine Kinder schlägt, materielle Enthaltsamkeit fordert, sich selbst aber teure Autos zulegt.
Rund 80 Prozent der Einsteiger haben die Sekte nach drei bis fünf Jahren wieder verlassen. Für manche ist der Ausstieg traumatisch. Sie kämpfen mit Schuldgefühlen, Ängsten und Depressionen. Fritz Huth, Dozent für Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt, vergleicht dies mit dem Prozess einer missglückten Ehescheidung.
Nach der Erfahrung in dem Meditationskurs widmet Max einen großen Teil seines Alltags "Miracle of Love". Er besucht teure Kurse, liest die Bücher des Kults, meditiert regelmäßig und verkauft alles, was er zu Geld machen kann. "Endlich hatte ich die Familie gefunden, die ich nie hatte", berichtet Max. Doch das Gefühl auf Wolken zu schweben, "auf Drogen zu sein", verblasst.
Er bekommt mit, wie die Sektenführerin einem Mitglied befiehlt, gegen ihren Willen den Ehemann zu verlassen. Je mehr Einblick Max in die inneren Strukturen der Sekte bekommt, desto größer werden seine Zweifel. Er will aussteigen, doch seine Freunde in der Sekte versuchen ihn zurückzuhalten und er bleibt. Zwei Jahre nach der ersten Begegnung ist es soweit.
Die Zeit ist reif für den Abschied.
In der Mitte eines Meditationsintensivkurses packt er seine Sachen und verschwindet für immer aus dem Dunstkreis der Sekte. Wenn man ihn jetzt, Jahre später, fragt, ob er aus der Zeit in der Sekte auch etwas Positives mitgenommen hat, lautet seine überraschende Antwort: "Der schönste Tag war der, an dem ich gegangen bin. Endlich hatte ich es geschafft, nein zu sagen und mich getraut, meinen eigenen Weg zu suchen."
Der Beitrag erschien leicht gekürzt und verändert in der Apotheken Umschau , 2007, Ausgabe 2A.