Magdalena Götz machte eine Entdeckung, die viele Kollegen kaum glauben konnten. Doch sie behielt Recht und will jetzt eine Therapie entwickeln, um verlorene Hirnzellen zu ersetzen.
Es habe Gegenwind gegeben, vor allem von den «Alpha-Männern», erinnert sich Magdalena Götz. Doch die zierliche Wissenschafterin, die mit lauter Stimme redet und auch einmal auf den Tisch haut, um ihre Aussagen zu unterstreichen, konterte selbstbewusst: Sie präsentiere keine Ergebnisse, von denen sie nicht überzeugt sei. Inzwischen hat ihre revolutionäre Idee Einzug in die Lehrbücher erhalten. Und Götz arbeitet daran, das Potenzial dieser ständig nachwachsenden Gliazellen zu nutzen, um verlorene Nervenzellen zu ersetzen. Damit würden der Medizin bei der Behandlung von Hirnerkrankungen wie Demenz oder einem Schlaganfall ganz neue Tore geöffnet.
Magdalena Götz sitzt auf einem Bürostuhl, hat ihren rechten Fuss unter sich auf den Stuhl gezogen und spielt mit einer Haarsträhne, bevor sie anfängt, mit ein paar Strichen eine Grafik aufs Papier zu zeichnen, Gliazellen links, Nervenzellen rechts – hochkonzentriert, schnell und zielstrebig. Es fällt nicht schwer, sich die 54-jährige Biologin als neugierigen Teenager vorzustellen.
«Wenn sie ein Ziel vor den Augen hatte, hat sie schon immer alles darangesetzt, es in Perfektion umzusetzen», sagt ihr Vater Lothar Götz, emeritierter Professor für Architektur. Er erinnert sich, wie Magdalena als Teenager ein Kleid entwarf und schneiderte, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Sie gewann, zog mit ihrem Entwurf weiter zum Bundeswettbewerb und schliesslich bis nach London zum europäischen Wettbewerb, wo sie ebenfalls gewann. Das Motiv, «eine Idee mit Mut und Ausdauer zu verfolgen», zieht sich durch, egal, wen man über Magdalena Götz befragt.
Sie habe im Labor gestanden und ihr Ding verfolgt, erklärt Jürgen Bolz, in dessen Arbeitsgruppe Magdalena Götz ihre Diplom- und Doktorarbeit schrieb. In der «Bolz-Gang», wie sich das siebenköpfige Forscherteam am Friedrich-Miescher-Laboratorium des Max-Planck-Instituts in Tübingen nannte, war Magdalena die einzige Frau. Die Gang arbeitete zusammen, lebte teilweise zusammen und feierte auch gemeinsam. Sie hätten sich im Sommer in Reusten getroffen, einem kleinen Ort nahe Tübingen, mit Leucht-Frisbees gespielt und praktisch die ganze Nacht gefeiert, erinnert sich Magdalena Götz an diese Zeit. Sie hätten schon ihren Spass gehabt, sagt sie, als wolle sie Bedenken zerstreuen, angesichts ihres vollgepackten Lebenslaufs sei keine Zeit für Ausgelassenheit geblieben.
Magdalena Götz (rechts) als Doktorandin in der Tübinger Arbeitsgruppe von Jürgen Bolz (Foto von J. Bolz).
Mit 35 Jahren wird sie Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München, drei Jahre später habilitiert sie, und mit 42 Jahren wird sie Direktorin am Institut für Stammzellforschung des Helmholtz-Zentrums München und gleichzeitig Inhaberin des Lehrstuhls für Physiologische Genomik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie wurde mit sechs Preisen geehrt, auch mit dem mit 2,5 Millionen Euro dotierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis.
Sie sei vielleicht etwas mutiger gewesen als andere und habe sich auch an Experimente mit unsicherem Ausgang gewagt, erinnert sich Bolz, heute Professor an der Universität Jena. Und sie habe ein Auge gehabt für Entdeckungen, die andere möglicherweise übersehen hätten. In ihrer Doktorarbeit erforschte sie, wie Nervenzellfasern während der Hirnentwicklung vom Auge in die Hirnrinde einwachsen. Einmal lag ein Gewebestück aus der Hirnrinde aus Versehen falsch herum in der Kulturschale. Andere hätten das Präparat vielleicht weggeworfen. Doch Magdalena schaute genau hin. Ihr fiel auf, dass die wachsenden Nervenzellfortsätze nicht mehr den direkten Weg nahmen. Sondern sie machten eine 180-Grad-Wendung, um ihr reguläres Ziel in dem verkehrt liegenden Gewebe zu erreichen. So hätten sie damals den Nachweis erbracht, dass Nervenzellen ihr Ziel anhand von chemischen Signalen erreichen, es quasi riechen, sagt Bolz.
Nach der Doktorarbeit lässt die Wissenschafterin eine Frage nicht los: Gibt es eine gemeinsame Vorläuferzelle, aus der unterschiedliche Typen von Nervenzellen gebildet werden? Jack Price vom National Institute of Medical Research in London war damals einer der wenigen Forscher, die mit einer Technik arbeiteten, die eine solche Untersuchung ermöglichte. So beginnt Magdalena Götz in Prices Labor in London. Nach dreieinhalb Jahren gibt es ein jähes Ende, das zeigt, wie eng Götz mit ihrer Forschung verbunden ist. Denn für ihre Arbeit benötigt sie Mäuse, die eine bestimmte Fehlentwicklung in der Hirnrinde aufweisen. Als der Mäusetransport an technischen Hürden zu scheitern droht, zieht sie kurzerhand zu ihren Mäusen nach Göttingen.
Dort legt sie den Grundstein für ihre erste wegweisende Entdeckung. In einem an sich unspektakulären Kontrollversuch färbt sie die Zellen des sich entwickelnden Mausgehirns ein. Nach dem damaligen Wissensstand hätte man erwartet, dort sowohl radiale Gliazellen – ein spezieller Typ von Gliazellen – als auch Vorläuferzellen für Nervenzellen zu finden. Sie habe mit einer Markierung nur die Gliazellen färben wollen, sagt sie, habe dann aber gesehen, dass alle Zellen gefärbt gewesen seien. Demzufolge gibt es im sich entwickelnden Gehirn noch keine klare Differenzierung zwischen den beiden. Das brachte sie zu der Frage, ob radiale Gliazellen vielleicht neuronale Vorläuferzellen sind.
Wenig später versucht sie dies in ihrem eigenen Labor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried zu klären. 1997 kann sie ihre Vermutung bestätigen. Die Entdeckung schreibt sich allerdings auch ein anderer auf die Fahne. So steht auf der Website von Arnold Kriegstein, Stammzellforscher der University of California: Wir entdeckten, dass radiale Gliazellen neuronale Stammzellen sind. Während Magdalena Götz den Prozess in der Kulturschale nachwies, gelang es Kriegsteins Team im Gehirn von Ratten. Doch Magdalena sei die Erste gewesen, sagt der Stammzellforscher Price, der gerade an einem Buch über die «Hirn-Reparatur» schreibt und über den Details wacht.
Als sie 2004 den Lehrstuhl für Physiologische Genomik der Universität München übernommen habe, habe ihr das ein neues Feld eröffnet, sagt die Wissenschafterin – das Gebiet der Hirnverletzungen. Damit rückte die Idee, das Potenzial der schlafenden Zellen zu wecken, um Hirnverletzungen auszugleichen, stärker in ihren Fokus. Allerdings scheint das Gehirn selbst dieses Potenzial zu hemmen. Ihr Team zeigte nämlich, dass Gliazellen nach einer Verletzung im Mausgehirn einfach bleiben, was sie sind. Erst als die Forscher die Zellen aus dem Gehirn in eine Kulturschale transferierten, verwandelten sich schliesslich manche Glia- in Nervenzellen.
Um den Erfolg in der Kulturschale auch im lebenden Gehirn zu wiederholen, schickten die Forscher ungefährliche Viren in die Zellen. Diese aktivierten verschiedene Gene, die normalerweise nur während der frühen Gehirnentwicklung aktiv sind. Daraufhin wandelten sich die Gliazellen in Nervenzellen um – sie wurden erfolgreich umprogrammiert. Zu Beginn gelang es dem Team nur bei zehn Prozent der behandelten Gliazellen. Erst als die Forscher einen weiteren Trick anwendeten und ein Protein aktivierten, das der Gliazelle hilft, den anspruchsvollen Übergang zum Stoffwechsel einer Nervenzelle zu meistern, konnten sie die Verwandlungsrate auf 90 Prozent steigern, wie sie kürzlich in der Zeitschrift «Cell Stem Cell» berichteten.
Jede Erkenntnis bringt Götz auf eine neue Frage. Können die frischgebackenen Nervenzellen die verlorenen ersetzen, mit all ihren Funktionen? Ihre neuesten Daten weisen darauf hin, dass unreife Nervenzellen, die man aus der embryonalen Hirnrinde in die verletzte Region einer erwachsenen Maus transplantiert, tatsächlich nach einigen Wochen so arbeiten, wie es sich für Nervenzellen an dieser Stelle gehört. So reagiert zum Beispiel eine in das Sehzentrum des Gehirns eingebrachte Zelle auf Orientierungsreize.
Doch Götz schwebt eine Umprogrammierung der bereits im Gehirn vorhandenen Gliazellen vor. Ob auch dies zu funktionstüchtigen Nervenzellen führt, ist noch offen. Das Fernziel ist, dem Gehirn nach einer Verletzung die Fähigkeit zurückzugeben, sich zu regenerieren. Dann könnten beispielsweise Schlaganfallpatienten mit Sehstörungen wieder besser sehen und Parkinson-Patienten sich wieder besser bewegen.
Doch bis ihre Forschung wirklich in der Klinik angewendet werden kann, ist es noch ein weiter Weg. Götz erwartet nicht, dass sie diese Erfolge noch während ihrer Berufstätigkeit erleben wird. Viele Forscher verweisen darauf, dass die Neurowissenschaften seit Jahrzehnten grosse Erwartungen wecken, aber kaum handfeste Therapien liefern.
Auf ein mögliches Problem bei Götz' Ansatz weist Sebastian Jessberger vom Institut für Hirnforschung der Universität Zürich hin. Die Grundidee, Nervenzellen neu entstehen zu lassen, sei phantastisch. Doch vermutlich sei die unvollständige Regenerationsfähigkeit der Preis, den unser Gehirn für seine hohe Komplexität und Leistungsfähigkeit zahlen müsse, sagt er. So kann etwa Nervengewebe, das nach einer Verletzung vernarbt, vor weiteren Schäden schützen. Sorgt man nun aber künstlich für die Entstehung neuer Nervenzellen, könnte sich dadurch eine Erkrankung auch verschlimmern. Erfahrungen mit der Transplantation von Stammzellen in das Gehirn von Parkinson-Patienten belegen, dass neue Nervenzellen mitunter negative Wirkungen entfalten können und etwa Bewegungsstörungen verstärken.
Läuft Götz' Methode also dem von der Natur eingerichteten Schutzmechanismus des Gehirns entgegen, und öffnet sie womöglich die Büchse der Pandora in unserem hochkomplexen Denkorgan? Nein, sagt die Forscherin. Der Mensch produziere deshalb keine nachwachsenden Nervenzellen, weil es dafür in seiner Evolution eben keinen Selektionsdruck gegeben habe. Die einzige Ausnahme in unserem Gehirn sei der Hippocampus, ein wichtiger Ort für die Gedächtnisbildung. Dort entstünden zeitlebens neue Nervenzellen. Trotzdem werde deswegen keiner dümmer, sagt sie. Es gebe keinen guten Grund, der gegen eine Reaktivierung der Regenerationsfähigkeit spräche, auch wenn das die Mehrzahl der Forscher glaube. An Mut und Durchhaltevermögen, um dieser Reaktivierung auf die Spur zu kommen, mangelt es Magdalena Götz nicht, wie ihre bisherigen Erfolge zeigen.
Der Text erschien im Oktober 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung (Redakteurin: Lena Stallmach).
Ich möchte mich an dieser Stelle bei all meinen Interviewpartnern bedanken, insbesondere auch bei denen, die im Text aus Platzgründen nicht aufgetaucht sind.